Inzidenz (Epidemiologie)


Die Inzidenz (lateinisch incidere ‚vorfallen‘) bezeichnet in der Epidemiologie die Häufigkeit von Ereignissen (insbesondere Erkrankungen) bezogen auf die Zeit. Genau definierte Maßzahlen hierfür sind die kumulative Inzidenz und die Inzidenzrate. Die Inzidenz von Todesfällen wird auch Mortalität genannt. Neben der Prävalenz ist die Inzidenz ein Maß für die Morbidität in einer Bevölkerung. Obwohl im Folgenden am Beispiel des Menschen beschrieben, ist sie auch eine nützliche Größe zur Überwachung von Tierbeständen.




Inhaltsverzeichnis





  • 1 Kumulative Inzidenz


  • 2 Inzidenzrate


  • 3 Betrachtungen bei konstanter Inzidenzrate

    • 3.1 Berechnung der Prävalenz


    • 3.2 Stochastik

      • 3.2.1 Anzahl Erkrankungen


      • 3.2.2 Zeit bis Erkrankung


      • 3.2.3 Erkrankung im Zeitraum Δt




  • 4 Abgeleitete Maßzahlen


  • 5 Standardfehler


  • 6 Siehe auch


  • 7 Literatur




Kumulative Inzidenz |


Die kumulative Inzidenz wird an einer initial völlig gesunden Studienpopulation bestimmt, die über einen bestimmten Zeitraum (zum Beispiel im Rahmen einer Kohortenstudie) nachverfolgt wird. Die kumulative Inzidenz ist definiert als der Anteil der Menschen, die im Untersuchungszeitraum an einer bestimmten Krankheit erkranken. Die Studienpopulation dient oft als (möglichst repräsentative) Stichprobe einer Bevölkerungsgruppe.


kumulative Inzidenz=erkrankte Menschenalle beobachteten Menschendisplaystyle textkumulative Inzidenz=frac texterkrankte Menschentextalle beobachteten Menschendisplaystyle textkumulative Inzidenz=frac texterkrankte Menschentextalle beobachteten Menschen

Eine methodische Schwierigkeit sind Menschen, die, bevor sie erkranken, sterben oder aus anderen Gründen aus der Studie ausscheiden, da sowohl ihre Zählung als beobachteter Mensch als auch ihre völlige Vernachlässigung die Berechnung systematisch verfälschen. Nützlich ist hier der Kaplan-Meier-Schätzer (dessen Differenz zu eins), der zugleich eine kumulative Inzidenz für jeden beliebigen Zeitpunkt innerhalb des Untersuchungszeitraums liefert. Für die Berechnung sind die exakten Zeitpunkte von Erkrankungen und Ausscheiden aus der Studie notwendig.


Die kumulative Inzidenz ist ein Anteil und nimmt entsprechend einen Wert zwischen 0 und 1 an; sie trägt keine Einheit. Die Angabe einer kumulativen Inzidenz ohne Nennung eines Zeitraums ist nutzlos, da die kumulative Inzidenz für sehr kurze Zeiträume unabhängig von der Krankheit nahe null ist und mit zunehmender Beobachtungsdauer stets gegen 1 strebt. Ein üblicher Untersuchungszeitraum ist ein Jahr, saisonale Schwankungen werden so nicht erfasst.


Die kumulative Inzidenz kann als die Wahrscheinlichkeit interpretiert werden, mit der ein Mensch aus der betrachteten Bevölkerungsgruppe in der betrachteten Zeitspanne mindestens einmal an der betrachteten Krankheit erkrankt; die kumulative Inzidenz wird deshalb auch als Risiko bezeichnet. Sollen kumulative Inzidenzen für aufeinander folgende Zeiträume zusammengefasst werden, können sie nicht einfach addiert werden. Stattdessen müssen die Gegenwahrscheinlichkeiten (1 − Inzidenz, entsprechend den Wahrscheinlichkeiten, die Teilzeitspannen gesund zu überstehen) multipliziert werden, um die Gegenwahrscheinlichkeit zur kumulativen Inzidenz über den Gesamtzeitraum zu erhalten.


Beispiel:


In einer Gruppe von 200 rauchenden Männern im Alter von 60 bis 80 Jahren, die bisher noch keinen Herzinfarkt hatten, sind während einer Beobachtungszeit von zwei Jahren bei 22 Personen erstmals Herzinfarkte aufgetreten (bei 12 Personen im ersten, bei 10 Personen im zweiten Beobachtungsjahr).

Damit beträgt die kumulative Inzidenz von Herzinfarkten in dieser Gruppe 22/200 = 11 % in zwei Jahren. Im ersten Jahr beträgt sie 12/200 = 6 %, im zweiten Jahr beträgt sie 10/188 = 5,3 %. Es gilt: (1 − 6 %) × (1 − 5,3 %) = 1 − 11 %



Inzidenzrate |


Die Inzidenzrate oder Inzidenzdichte bezieht die Anzahl der Erkrankungen auf die Personenzeit unter Risiko (d. h. die Summe der Zeiten, die beobachtete Personen gesund verbrachten). Bei Tieren würde man nicht von Personenzeit, sondern von Bestandszeit sprechen. Die Inzidenzrate kann auch dann berechnet werden, wenn die Studienteilnehmer unterschiedlich lange beobachtet wurden.


Inzidenzrate=ErkrankungenPersonenzeit unter Risikodisplaystyle textInzidenzrate=frac textErkrankungentextPersonenzeit unter Risikodisplaystyle textInzidenzrate=frac textErkrankungentextPersonenzeit unter Risiko

Mehrmalige Erkrankungen derselben Person im Untersuchungszeitraum gehen anders als bei der kumulativen Inzidenz mehrfach in die Berechnung ein. Personen, die zu Beobachtungsbeginn bereits erkrankt waren, können in die Untersuchung eingeschlossen werden, da sie nach Genesung wieder Personenzeit unter Risiko oder sogar neue Erkrankungen beisteuern können. Bei Krankheiten, deren erstes Auftreten spätere Erkrankungen derselben Person wesentlich wahrscheinlicher (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) oder unwahrscheinlicher (Immunität nach Infektionskrankheit) macht, ist es zweckmäßig, nur die erste Erkrankung zu untersuchen; Personen scheiden dann mit erstmaliger Erkrankung aus der Beobachtung aus, da sich auch keine Zeit unter dem Risiko einer Ersterkrankung mehr verbringen können. Das Ergebnis einer solchen Berechnung ist eine Zahl zwischen 0 und ∞ pro Tag/pro Woche/pro x Jahre, wobei die verwendete Einheit mathematisch austauschbar ist und nichts über das Studiendesign aussagt. Die Inzidenzrate ist von der Länge des Beobachtungszeitraums unabhängig, sofern sich die Dynamik der Erkrankungen nicht verändert. Die empirisch bestimmten Inzidenzraten müssten streng genommen als mittlere Inzidenzraten über den jeweiligen Untersuchungszeitraum bezeichnet werden; in mathematischen Modellen kommen auch Augenblickswerte der Inzidenzrate vor, beispielsweise als hazard rates in der Ereigniszeitanalyse.


Die Inzidenzrate ist weniger intuitiv zu interpretieren als die kumulative Inzidenz, am ehesten vielleicht als Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit. Der Kehrwert der Inzidenzrate ist die durchschnittliche Zeit einer Person unter Risiko bis zur Erkrankung. Analog zur Inzidenzrate lässt sich eine Genesungsrate als Quotient aus Genesungen und Personenzeit unter Krankheit definieren (als Genesung gilt in diesem Kontext jedes Ausscheiden aus der Krankheit, auch durch Tod). Der Kehrwert der Genesungsrate ist die durchschnittliche Krankheitsdauer.



Betrachtungen bei konstanter Inzidenzrate |



Berechnung der Prävalenz |


Der hier hergeleitete Zusammenhang gilt unter der Annahme, dass die Zahl der gesunden Menschen G und die Zahl der kranken Menschen K in einer Bevölkerung konstant sind. Die Prävalenz P der Krankheit (d. h. der Anteil der Kranken an der Gesamtbevölkerung) ist dann ebenfalls konstant und kann aus Inzidenzrate i und Genesungsrate g berechnet werden. Grundüberlegung dafür ist, dass auf jeden Todesfall eine Geburt kommt und sich Erkrankungen und Genesungen die Waage halten:


g⋅K=i⋅Gdisplaystyle gcdot K=icdot Gdisplaystyle gcdot K=icdot G

g⋅K+i⋅K=i⋅G+i⋅Kdisplaystyle gcdot K+icdot K=icdot G+icdot Kdisplaystyle gcdot K+icdot K=icdot G+icdot K

(g+i)⋅K=i⋅(G+K)displaystyle (g+i)cdot K=icdot (G+K)displaystyle (g+i)cdot K=icdot (G+K)

KG+K=ig+idisplaystyle frac KG+K=frac ig+idisplaystyle frac KG+K=frac ig+i

P=ig+idisplaystyle P=frac ig+idisplaystyle P=frac ig+i

Eine Krankheit kann also durch eine hohe Inzidenzrate (z. B. hochansteckender Keim) oder durch eine niedrige Genesungsrate (z. B. chronische Krankheiten) eine hohe Prävalenz erlangen. Schnelle Heilung oder rascher Tod führen dagegen über eine hohe Genesungsrate zu einer niedrigen Prävalenz.



Stochastik |



Anzahl Erkrankungen |


Die Anzahl der Erkrankungen während der Personenzeit T ist Poisson-verteilt mit dem Verteilungsparameter λ = i·T, der zugleich Erwartungswert und Varianz darstellt.



Zeit bis Erkrankung |


Die Personenzeit bis zur ersten Erkrankung oder zwischen zwei Erkrankungen ist exponentialverteilt mit dem Verteilungsparameter λ = i. Erwartungswert und Standardabweichung betragen damit 1/i.



Erkrankung im Zeitraum Δt |


Durch Integration der Dichtefunktion aus dem vorhergehenden Abschnitt erhält man die Verteilungsfunktion der Exponentialverteilung; diese liefert für jede Zeit die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Individuum bis dahin mindestens einmal erkrankt ist. Dies ist nichts Anderes als die kumulative Inzidenz I, die sich somit aus der Inzidenzrate berechnen lässt:


I=1−e−i⋅Δtdisplaystyle I=1-mathrm e ^-icdot Delta tdisplaystyle I=1-mathrm e ^-icdot Delta t

Da sich die Exponentialfunktion ex für kleine x durch 1+x annähern lässt, kann die Formel vereinfacht werden, wenn das Produkt aus Inzidenzrate und Beobachtungszeitraum klein ist:


I≈i⋅Δtdisplaystyle Iapprox icdot Delta tdisplaystyle Iapprox icdot Delta t

Die Zahlenwerte von kumulativen Inzidenzen (angegeben als Anteil in einem Jahr) unterscheiden sich deshalb bei manchen Krankheiten kaum von Inzidenzraten (angegeben als Zahl pro Jahr).



Abgeleitete Maßzahlen |


Das Verhältnis der kumulativen Inzidenz Exponierter zur kumulativen Inzidenz Nichtexponierter heißt relatives Risiko, die Differenz dieses Quotienten zu 1 relative Risikoreduktion bzw. -steigerung. Analog zum relativen Risiko lässt sich als Quotient zweier Inzidenzraten die relative Rate berechnen. Solange der Zusammenhang I≈i⋅Δtdisplaystyle Iapprox icdot Delta tdisplaystyle Iapprox icdot Delta t gilt (s. o.), haben beide Maßzahlen annähernd denselben Wert.


relatives Risiko=IexponiertInicht exponiertdisplaystyle textrelatives Risiko=frac I_textexponiertI_textnicht exponiertdisplaystyle textrelatives Risiko=frac I_textexponiertI_textnicht exponiert

relative Rate=iexponiertinicht exponiertdisplaystyle textrelative Rate=frac i_textexponierti_textnicht exponiertdisplaystyle textrelative Rate=frac i_textexponierti_textnicht exponiert

Mortalität meint üblicherweise die kumulative Inzidenz von Todesfällen über ein Jahr. 5-Jahres-Überlebensraten sind nichts Anderes als die Gegenwahrscheinlichkeit zur kumulativen Inzidenz von Todesfällen über fünf Jahre.



Standardfehler |


Zur Berechnung von Signifikanztests und Konfidenzintervallen können bei großen Stichprobenumfängen die folgenden Standardfehler benutzt werden:














Kumulative Inzidenz a/nInzidenzrate a/T
a(n−a)n3displaystyle sqrt frac a(n-a)n^3displaystyle sqrt frac a(n-a)n^3
aTdisplaystyle frac sqrt aTdisplaystyle frac sqrt aT
Differenz zweier ~a1(n1−a1)n13+a2(n2−a2)n23displaystyle sqrt frac a_1(n_1-a_1)n_1^3+frac a_2(n_2-a_2)n_2^3displaystyle sqrt frac a_1(n_1-a_1)n_1^3+frac a_2(n_2-a_2)n_2^3
a1T12+a2T22displaystyle sqrt frac a_1T_1^2+frac a_2T_2^2displaystyle sqrt frac a_1T_1^2+frac a_2T_2^2

ln(Verhältnis zweier ~)
1a1−1n1+1a2−1n2displaystyle sqrt frac 1a_1-frac 1n_1+frac 1a_2-frac 1n_2displaystyle sqrt frac 1a_1-frac 1n_1+frac 1a_2-frac 1n_2
1a1+1a2displaystyle sqrt frac 1a_1+frac 1a_2displaystyle sqrt frac 1a_1+frac 1a_2


Siehe auch |


  • Rohe Rate


Literatur |


  • Kreienbrock, Pigeot, Ahrens: Epidemiologische Methoden. 5. Auflage. Springer Spektrum, Berlin/Heidelberg 2012, ISBN 978-3-8274-2333-7, Kapitel 2 Epidemiologische Maßzahlen. 

  • Kenneth J. Rothman: Epidemiology – An Introduction. 2. Auflage. Oxford University Press, 2012, ISBN 978-0-19-975455-7, Kapitel 4 Measuring Disease Occurrence and Causal Effects. 


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