Streichquartett
Von der Wiener Klassik bis in die heutige Zeit ist das Streichquartett in der Besetzung aus zwei Violinen, Bratsche und Violoncello die bedeutendste Gattung der Kammermusik. Der Begriff Streichquartett bezeichnet dabei sowohl das Ensemble (Quartett) als auch die Musikgattung, bzw. eine aus dieser hervorgehende Komposition.
Inhaltsverzeichnis
1 Entstehung
2 Blütezeit
3 Entwicklung des 20. Jahrhunderts
4 Neuere Entwicklungen
5 Komponisten mit wichtigen Beiträgen zur Gattungsgeschichte
6 Bekannte Ensembles
7 Varia
8 Literatur
9 Weblinks
10 Einzelnachweise
Entstehung |
Das Streichquartett entwickelte sich im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts aus der barocken Triosonate, im italienischen Raum der Sinfonia, der Sonata und dem Concerto grosso, sowie im deutschsprachigen Raum dem Quartett-Divertimento. Durch die zunehmende Gleichberechtigung der Stimmen, bei der die Violoncellostimme nicht, wie in der Barockmusik üblich, nur eine begleitende Rolle als Basslinien-Instrument im Generalbass einnahm, sondern solistische Passagen erhielt, breitete sich der vierstimmige Satz aus. Im Laufe der Zeit führte dies schließlich zu einer Unterscheidung zwischen orchestralem und kammermusikalischem Satz. Die Gattungsgründung ist nahezu zeitgleich durch Joseph Haydn gegen Ende der 1750er Jahre in Wien sowie Luigi Boccherini um 1761 (Kompositionsdatum seines 1. Streichquartetts) in Mailand anzusetzen. Bereits einige Jahre zuvor hatten Georg Philipp Telemann und Matthias Georg Monn Werke für die typische Streichquartettbesetzung vorgestellt. Boccherinis Quartettstil, der sich nach der Veröffentlichung seiner Werke in Paris ab 1767 schnell zunehmender Beliebtheit erfreute, entwickelte sich weder bei ihm selber noch bei vielen Zeitgenossen weiter und wurde schließlich von der zunehmenden Dominanz des haydnschen Stils verdrängt.
Aus Haydns Quartett-Divertimenti op. 1 und 2 entwickelte sich durch Haydns systematische Arbeit derjenige Typus, welcher spätestens mit op. 33 im Jahre 1781 als verbindliches Muster des Streichquartetts angenommen wurde. Haydn nahm eine eher zufällige Musiziersituation (in der zwei Violinisten, ein Bratscher und ein Cellist Stücke zum häuslichen Spiel suchten) auf, um die Möglichkeiten dieser Zusammenstellung zu erproben. Die Stücke op. 1 und 2 machen die Satzfolge Schnell – Menuett – Adagio – Menuett – Schnell zur Norm. Die Ecksätze sind dabei in der Form kleiner Sonatensätze gebildet. Die für das Modell des Streichquartetts später so wichtigen Elemente wie die motivische Arbeit und die Gleichberechtigung der Instrumente werden erprobt.
Haydn war trotz des großen Erfolges der Werke mit diesem Modell anscheinend nicht ganz zufrieden. Im 1769/1770 entstandenen Opus 9 und im 1771 entstandenen op. 17 machte er die aus der Sinfonie stammende Viersätzigkeit, meistens in der Form Moderato – Menuett – Adagio – Presto, zur Norm. Im ein Jahr später entstandenen op. 20 gerät dieser eben erst formulierte Stil schon in eine „Krise“. Haydn klingt hier weit extremer und experimentierfreudiger. Die Affektsprache wird intensiviert, die Kontraste innerhalb der Sätze werden stärker herausgearbeitet. Als Beispiel möge der erste Satz aus op. 20 Nr. 3 (siehe Noten und
Blütezeit |
Ihre Blüte erreichte die Gattung in der so genannten Wiener Klassik. Ausschlaggebend war dafür die Auseinandersetzung von Komponisten mit Streichquartetten ihrer Kollegen. So treiben die Haydn-Quartette von Wolfgang Amadeus Mozart die Entwicklung voran, insbesondere deren letztes, das Dissonanzenquartett. Die von höchster geistiger Durchdringung zeugenden Streichquartette von Ludwig van Beethoven setzten neue Maßstäbe für alle nachfolgenden Komponistengenerationen. Mit ihrer (teilweise noch heute) avantgardistischen Kühnheit in Form und Ausdruck verabschiedete sich die Gattung endgültig von einer bloßen Unterhaltung für das Publikum. Nicht zuletzt durch Beethovens Werke verursacht, erlebte die – zunächst von Dilettanten oder in adeligem Dienst stehenden Ensembles gepflegte – Besetzungsform mit dem Schritt berufsorientierter Ensembles aus Salon und Musizierstube in den öffentlichen Konzertsaal 1804 in Wien (Schuppanzigh-Quartett) eine zunehmende Professionalisierung.
Das Streichquartettschaffen von Franz Schubert ist ähnlich umfangreich wie dasjenige Beethovens. Mindestens seine letzten drei Quartette (Der Tod und das Mädchen, Rosamunde, G-Dur-Quartett) stehen in ihrer Bedeutung und Beliebtheit heute gleichwertig neben den Werken Beethovens. Eine größere Anzahl von Streichquartetten schrieben in der nachfolgenden Zeit Felix Mendelssohn Bartholdy und Antonín Dvořák (z. B. Amerikanisches Quartett op. 96). Mendelssohns Streichquartett op. 13 kann als Anregung für Edvard Griegs Streichquartett op. 27 gelten, welches die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart als eine der bemerkenswertesten Kompositionen der Romantik bewertet.[1] Bei Robert Schumann und Johannes Brahms stehen die Streichquartette eher am Rande des kammermusikalischen Schaffens. Bedřich Smetana komponierte in seinem Quartett „Aus meinem Leben“ sein Tinnitus-Leiden akustisch mit ein. Giuseppe Verdi schrieb 1873 sein einziges Streichquartett als Gelegenheitswerk, da sich die Proben zur geplanten neapolitanischen Erstaufführung der Aida wegen der Indisposition der Primadonna Teresa Stolz verzögerten.[2]
Entwicklung des 20. Jahrhunderts |
Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen die nachromantischen Beiträge zur Gattung Streichquartett wie eine konsequente Weiterentwicklung. Die Einzelwerke von Maurice Ravel (Streichquartett in F-Dur) und Claude Debussy (Streichquartett in g-Moll), die beiden programmatischen Streichquartette von Leoš Janáček, die vier nummerierten Streichquartette von Arnold Schönberg und die sechs Streichquartette von Béla Bartók formulieren auf höchstem Niveau die Quintessenz der Tonsprache der jeweiligen Komponisten, im Fall von Bartók deutlich erkennbar aus jeweils verschiedenen Schaffensperioden. Während die Quartette Debussys und Ravels vor allem in ihrer klanglichen Differenzierung zukunftsweisend sind, betreten die Quartette der Zweiten Wiener Schule um Schönberg (Berg, Webern) sowie Bartóks auch harmonisches und teilweise formales Neuland: Schönberg fügt in zwei Sätzen seines 2. Streichquartetts den vier Instrumenten eine Sopranstimme hinzu; in Nr. 3 und 4 verlässt er die harmonisch-tonale Kompositionsweise, die den formalen Verlauf eines Streichquartetts von Anbeginn der Gattung geprägt hatte: Geradezu programmatisch lautet denn auch der vertonte Gedichttext des 4. Satzes (Stefan George): „ich fühle luft von anderem planeten [...] ich löse mich in tönen, kreisend, webend“. Den entscheidenden Schritt in die freie Tonalität bzw. Atonalität (ein von Schönberg abgelehnter Begriff, der sich jedoch durchgesetzt hat) geht aber Anton Webern mit seinen drei Streichquartetten und entwickelt dabei neue, aus der Zwölftontechnik abgeleitete musikalische Formen. Doch erst das dodekaphone Streichquartett op. 28 verweist auch im Namen auf die Gattungstradition: Die Kompositionen aus op. 5 heißen schlicht „Sätze“ für Streichquartett, op. 9 ist mit „Bagatellen“ überschrieben: Beide Werke sind frei atonal komponiert, allerdings finden sich selbst hier noch versprengte Dreiklangsbildungen und andere vage Assoziationen an die Tonalität; der Titel „Bagatellen“ geht aber wohl nicht auf Webern selbst, sondern auf den Verlag zurück. Die Bagatellen op. 9 wiederum sind eine Kompilation eines dreisätzigen Streichquartetts aus dem Jahr 1911, das für die Bagatellen op. 9 um einen Eingangs- und Schlusssatz erweitert wurde. Diese beiden Ecksätze stammen aus dem Jahr 1913: Sie bildeten ursprünglich mit einem ebenfalls eine Singstimme einbeziehenden Mittelsatz eine abgeschlossene Werkeinheit; Webern publizierte jedoch nur diese beiden Rahmensätze innerhalb der Bagatellen op. 9 (der Mittelsatz des Zyklus aus dem Jahr 1913 blieb zu Lebzeiten unpubliziert). Die für Webern typische kompositorische Verdichtung des Ausdrucks findet sich später wieder in den drei Streichquartetten des ungarischen Komponisten György Kurtág, dessen Streichquartett Officium breve (1988/89) sowohl mit der Opuszahl 28 als auch mit einem Zitat ganz bewusst auf Webern verweist.
Schönbergs Schwager und Freund Alexander Zemlinsky komponierte vier Streichquartette, in denen er jeweils den kompositionstechnischen status quo seiner Zeit reflektierte: Das 1. Quartett D-Dur wirkt wie eine Übersteigerung der Musiksprache Brahms' und kreuzt diese mit Wagner'scher Harmonik; das 2. Quartett op. 15 zitiert Themen, Motive, Formmodelle und Tonartdispositionen von Werken Schönbergs (man beobachte die vorgezeichnete Tonart fis-Moll, die an Schönbergs 2. Streichquartett erinnert: Schönberg sprengt die Tonart innerhalb des Satzzyklus, Zemlinsky erreicht sie so gut wie nirgendwo). Das dritte (op. 19) und vierte Quartett (op. 25) wirken wie eine Bestandsaufnahme des verfügbaren ‚musikalischen Materials‘ zur Zeit ihrer Komposition: In ihnen stehen unaufgelöste Dissonanzen, Diatonik, Themen, die annähernd alle 12 Töne einbeziehen, rhythmisch-metrische Vexierspiele, Ostinati, spätromantische Ausdrucksübersteigerung und neobarocke Formensprache, anverwandelt durch den für Zemlinsky typischen ‚Ton‘, nebeneinander.
Strawinski vermeidet die Bezeichnung „Streichquartett“ und reiht lose Sätze für diese Besetzung aneinander, einen ähnlichen Ansatz zur Gattungsauflösung verfolgt Alban Berg, indem er die Lyrische Suite mit 6 Sätzen statt der üblichen 4 versieht und dem Werk das kammermusikalische Element durch eine Orchestrierung nimmt. Bartók schließlich fügt volksmusikalische Elemente hinzu, schreibt ein einsätziges Quartett (Nr. 3) und entwickelt neue Spieltechniken für die vier Streicher u. a. das so genannte „Bartók-Pizzicato“, bei dem der Spieler die Saite geräuschvoll auf das Griffbrett schnellen lässt. Gershwin geht in einigen seiner Werke ebenfalls eher neuartige Wege, indem er das isolierte Streichquartett, wie beispielsweise in seinem Klavierkonzert in F im zweiten Satz, für kurze Zeit als eine Art 'Interludium' auftreten lässt, während das restliche Werk von vollem Orchester getragen wird. Völlig den Rücken kehren der Gattung, nicht aber der Besetzung, Kompositionen von Bernhard Sekles, Erich Wolfgang Korngold und Philipp Jarnach. Dem entgegen stehen Werke derselben Zeit von Paul Hindemith und Dmitri Schostakowitsch, die der Auseinandersetzung mit oder Abkehr von der Tradition fern stehen und an die Blütezeit vor Beethoven erinnern.
Bemerkenswerte Beiträge zur Streichquartettkompositionen neuester Zeit lassen sich auch in der Filmmusik finden, beispielsweise in vielen Werken von Phillip Glass, oder auch bei Christopher Young. Vor allem bei Young findet sich auch immer weider die auch schon von Schönberg verwendete Orchestrierungsart von Orchester und zusätzlichem Streichquartett. Im Gegensatz zum barocken 'Concerto Grosso' agiert das Quartett hierbei weniger im musikalischen Dialog, sondern ist mehr mit dem restlichen Orchester verwoben.
Des Weiteren kommen Streichquartette – üblicherweise ergänzt durch weitere Instrumente – auch in der Popmusik oder Musicals vor.
Neuere Entwicklungen |
Setzten sich die ersten Streichquartette zunächst noch (im Fall des Gewandhausquartetts bis heute) aus den Stimmführern der jeweiligen Instrumentengruppen eines Orchesters zusammen, etablierte sich ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend der Typus des vom Orchester unabhängig agierenden Kammermusikensembles. Die bekanntesten Streichquartette unserer Zeit arbeiten auf freischaffender Grundlage, allerdings zunehmend nach amerikanischem Vorbild als „quartet in residence“, bei dem ein Streichquartett für einige Zeit an einer Universität angestellt ist und dafür in die Gestaltung des musikalischen Lebens am Universitätsstandort sowie in eine Lehrtätigkeit an den angeschlossenen musikalischen Instituten einbezogen wird.
Schien die Zersplitterung der Gattungsvorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in eine Krise der Gattung zu führen, so zeigte sich doch spätestens seit den 60er Jahren wieder ein vermehrtes Interesse der Komponisten an dieser Gattung, die nunmehr in einer kaum einzugrenzenden stilistischen Vielfalt entstehen. Wichtige Beiträge lieferten Witold Lutosławski (1964), György Ligeti (1968, 2. Streichquartett) und Luigi Nono (1979/1980). Ein Vorstoß in Geräuschhaftes findet sich bei Krzysztof Penderecki, eine Sprengung des Aufführungsrahmens entsteht bei Karlheinz Stockhausen durch Verteilen der vier Spieler auf vier Hubschrauber (Helikopter-Quartett aus Licht). Die Erforschung neuer geräuschhafter Klanglichkeit findet sich auch in den drei Beiträgen zur Gattung Streichquartett von Helmut Lachenmann.
Einen Weg unabhängig von der europäischen Tradition gingen amerikanische Komponisten wie John Cage, Steve Reich, Terry Riley und vor allem Morton Feldman, dessen 2. Streichquartett (1983) mit einer Aufführungsdauer von fünf Stunden alle herkömmliche Aufführungspraxis sprengt. In der nachfolgenden mittleren und jüngeren Generation gibt es einige Komponisten, die ab den 1970er Jahren in dem Bewusstsein eines Neuanfangs und der Abkehr von streng strukturalistischem Denken mittlerweile mehrere Streichquartette vorlegten; zu ihnen gehören Wolfgang Rihm, der bis heute bereits 13 Quartette hervorgebracht hat, Michael Denhoff mit inzwischen 9 Streichquartetten und Jörg Widmann, der 1997 mit dem Schreiben von Streichquartetten begann, der seine Quartette 1 bis 5 als Teile eines großen Werks betrachtet; eine Arbeit, die im Jahr 2005 ihren Abschluss fand.
Komponisten mit wichtigen Beiträgen zur Gattungsgeschichte |
|
|
|
Siehe auch: Liste der kammermusikalischen Werke Haydns, Liste der kammermusikalischen Werke Mozarts ohne Klavier, Liste der kammermusikalischen Werke Beethovens, Liste der kammermusikalischen Werke Schuberts
Bekannte Ensembles |
Siehe: Liste von Streichquartett-Ensembles
Varia |
Szöke Szakall schrieb eine Komödie namens Streichquartett. Der Witz wird aus dem Umstand bezogen, dass vier Musiker auftreten sollen, von denen keiner ein Instrument spielen kann. Es wurde Anfang der 1960er-Jahre u. a. mit Dieter Hildebrandt, Klaus Havenstein, Hans Jürgen Diedrich, Jürgen Scheller, Fritz Benscher und Ursula Noack als TV-Stück produziert.
Literatur |
- Friedhelm Krummacher: Geschichte des Streichquartetts. 3 Bände. Laaber-Verlag, Laaber 2005, ISBN 3-89007-587-8.
- Paul Griffiths: The String Quartet – A History. Thames and Hudson, New York 1983, ISBN 0-500-01311-X (englisch)
- Francis Vuibert: Répertoire universel du quatuor à cordes. ProQuartet-CEMC, 2009, ISBN 978-2-9531544-0-5 (französisch)
Weblinks |
Commons: Streichquartette – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Streichquartett – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Einzelnachweise |
↑ Klaus Henning Oelmann: Edvard Grieg als Streichquartettkomponist – eine konzeptionelle und wirkungsgeschichtliche Studie. (= Musikwissenschaft/Musikpädagogik in der Blauen Eule. Band 11). Verlag Die Blaue Eule, Essen 1992, ISBN 3-89206-462-8.
↑ Norbert Graf: Quartetto in Mi minore. In: Anselm Gerhard, Uwe Schweikert: Verdi Handbuch. Metzler, Kassel/ Bärenreiter, Stuttgart/ Weimar 2001, ISBN 3-7618-2017-8, S. 521.