Betastrahlung
Betastrahlung oder β-Strahlung ist eine ionisierende Strahlung, die bei einem radioaktiven Zerfall, dem Betazerfall, auftritt. Ein radioaktives Nuklid, das Betastrahlung aussendet, wird als Betastrahler bezeichnet. Diese Teilchenstrahlung besteht bei der häufigeren β−-Strahlung (gesprochen: Beta-Minus-Strahlung) aus Elektronen, bei der selteneren β+-Strahlung dagegen aus Positronen. Das Radionuklid wandelt sich dabei in ein Isotop des nächsthöheren (bei β−) bzw. nächstniedrigeren (bei β+) Elements um (Betaübergang).
Der Name stammt von der ersten Einteilung der ionisierenden Strahlen aus radioaktivem Zerfall in Alphastrahlen, Betastrahlen und Gammastrahlen, die in dieser Reihenfolge steigende Durchdringungsfähigkeit von Materie zeigen.
Die kinetische Energie der emittierten Betateilchen ist von Null bis zu einem für den jeweiligen Betaübergang charakteristischen Maximalwert kontinuierlich verteilt. Dies ist möglich, da die beim Zerfall entstehenden drei Teilchen (Betateilchen, ein ebenfalls erzeugtes Neutrino und der Tochterkern) Energie und Impuls abhängig von den Winkeln zwischen den Zerfallsprodukten untereinander aufteilen. Die typische maximale Energie von Betastrahlung liegt in der Größenordnung von hunderten Kiloelektronenvolt bis wenige Megaelektronenvolt.
Inhaltsverzeichnis
1 Entstehung
1.1 Beta-Zerfall von Atomkernen
1.1.1 Beta-Minus-Zerfall (β−)
1.1.2 Beta-Plus-Zerfall (β+)
1.2 Zerfall des freien Neutrons
2 Energiespektrum
2.1 Konversionselektronen
2.2 Neutrinomasse
3 Polarisation
4 Wechselwirkung mit Materie
4.1 Biologische Wirkung
4.2 Strahlenschutz
5 Anwendungen
6 Forschungsgeschichte
7 Künstliche Elektronenstrahlen
8 Siehe auch
9 Literatur
10 Weblinks
11 Einzelnachweise
Entstehung
Beta-Zerfall von Atomkernen
Der Betazerfall ist ein radioaktiver Zerfallstyp von Atomkernen. Als Folge des Zerfallsvorgangs wandelt sich der Kern in einen isobaren Kern eines benachbarten Elements um, während gleichzeitig zwei Leptonen entstehen und den Kern verlassen. Beim Beta-Minus-Zerfall (β−) handelt es sich bei den Leptonen um ein Elektron und ein Antineutrino, beim Beta-Plus-Zerfall (β+) um ein Positron und ein Neutrino. Die durch die Kernumwandlung freiwerdende Bindungsenergie, typischerweise im MeV-Bereich, tritt als kinetische Energie der drei Teilchen des Endzustands auf. Wegen der Erhaltung von Energie und Impuls (siehe Kinematik (Teilchenprozesse)) erhalten die beiden Leptonen den weitaus größten Teil der Energie. Beim Tochterkern verbleibt nur ein sehr kleiner Anteil von einigen eV.
In der Anfangszeit der Kernphysik führte die Beobachtung von Beta-Elektronen vorübergehend zu dem Fehlschluss, Elektronen seien Bestandteile des Atomkerns.[1] Nach heutigem Wissen werden jedoch die beiden emittierten Teilchen erst zum Zeitpunkt der Kernumwandlung erzeugt: Ein W-Boson vermittelt die schwache Wechselwirkung und bewirkt beim β−-Zerfall die Umwandlung eines in einem Neutron vorhandenen d-Quarks in ein u-Quark und damit die Umwandlung des Neutrons in ein Proton. Beim β+-Zerfall ist es umgekehrt ein in einem Proton vorhandenes u-Quark, das in ein d-Quark umgewandelt wird und damit aus dem Proton ein Neutron macht. Das umgewandelte Quark behält seine Rolle als Bestandteil des umgewandelten Nukleons, die beiden entstandenen Leptonen verlassen den Kern.
Dass Beta-Minus-Strahlen tatsächlich dieselbe Teilchenart sind wie die Elektronen der Atomhülle, zeigt sich in ihrer Wechselwirkung mit Materie. Das Pauli-Prinzip, das nur für identische Teilchen gilt, verhindert, dass das Elektron nach dem Abbremsen in bereits besetzte Zustände eines neutralen Atoms eingefangen wird. Mit Beta-Minus-Strahlen ist dieser Einfang tatsächlich nie beobachtet worden, während für andere negativ geladene Teilchen, beispielsweise Myonen, dieser Einfang nicht verboten ist und auch beobachtet wird.[2]
Beta-Minus-Zerfall (β−)
Nuklide mit einem Überschuss an Neutronen zerfallen über den β−-Prozess. Ein Neutron des Kerns wandelt sich in ein Proton um und sendet dabei ein Elektron (e−displaystyle mathrm e ^-) sowie ein Elektron-Antineutrino (ν¯edisplaystyle overline nu _e) aus. Elektron und Antineutrino verlassen den Atomkern, da sie Leptonen sind und nicht der starken Wechselwirkung unterliegen. Da sich nach dem Zerfallsprozess ein Neutron weniger, aber ein Proton mehr im Kern befindet, bleibt die Massenzahl Adisplaystyle A unverändert, während sich die Kernladungszahl Zdisplaystyle Z um 1 erhöht. Das Element geht also in seinen Nachfolger im Periodensystem über.
Schreibt man wie üblich Massenzahlen Adisplaystyle A oben und Kernladungszahlen Zdisplaystyle Z unten an die Symbole, kann demnach der Zerfall des Neutrons durch folgende Formel beschrieben werden:
- 01n→11p+e−+ν¯edisplaystyle _0^1mathrm n to _1^1mathrm p +mathrm e ^-+overline nu _e
Bezeichnet X das Mutter- und Y das Tochternuklid, so gilt für den β−-Zerfall allgemein:
- ZAX→Z+1AY+e−+ν¯edisplaystyle _Z^Amathrm X to _Z+1^Amathrm Y +mathrm e ^-mathrm + overline nu _e
Ein typischer β−-Strahler ist 198Au. Hier lautet die Umwandlung in Formelschreibweise:
- 79198Au→ 80198Hg+e−+ν¯edisplaystyle _ 79^198mathrm Au to _ 80^198mathrm Hg +mathrm e ^-+overline nu _e
Die meist hohe Energie des erzeugten Elektrons verhindert einen sofortigen Einfang in einen der hoch liegenden freien Zustände desselben Atoms. Besonders bei hochgeladenen schweren Ionen kann jedoch direkt ein Übergang in einen solchen gebundenen Zustand stattfinden, dieser Prozess wird gebundener Betazerfall genannt[3].
Beta-Plus-Zerfall (β+)
Der β+-Zerfall tritt bei protonenreichen Nukliden auf. Hierbei wird ein Proton des Kerns in ein Neutron umgewandelt. Dabei entsteht zusammen mit einem Positron (Positronenstrahlung) ein Elektron-Neutrino. Wie beim β−-Zerfall bleibt die Massenzahl unverändert, jedoch verringert sich die Kernladungszahl um 1, das Element geht also in seinen Vorgänger im Periodensystem über.
Die Umwandlung des Protons in ein Neutron lautet als Formel:
- 11p→01n+e++νedisplaystyle _1^1mathrm p to _0^1mathrm n +mathrm e ^++nu _e
Mit den gleichen Bezeichnungen wie oben lässt sich der allgemeine β+-Zerfall beschreiben als:
- ZAX→Z−1AY+e++νedisplaystyle _Z^Amathrm X to _Z-1^Amathrm Y +mathrm e ^++nu _e
Das am häufigsten vorkommende primordiale Nuklid, bei dem (unter anderem) β+-Zerfall auftritt, ist Kalium-40 (40K), allerdings ist der Zerfall sehr selten. Hier lautet die Formel:
- 1940K→1840Ar+e++νedisplaystyle _19^40mathrm K to _18^40mathrm Ar +mathrm e ^++nu _e
- Elektroneneinfang
Ein Konkurrenzprozess zum β+-Zerfall ist der Elektroneneinfang, der auch zu den Betazerfällen gezählt wird, obwohl keine Betastrahlung entsteht. Auch hierbei wandelt sich ein Proton des Kerns in ein Neutron um, während ein Elektron aus einer kernnahen Schale der Atomhülle vernichtet wird und ein Neutrino erzeugt und emittiert wird:
- ZAX+e−→Z−1AY+νedisplaystyle _Z^Amathrm X +mathrm e ^-to _Z-1^Amathrm Y mathrm + nu _e
Dieser Prozess tritt bei jedem β+-Strahler als weiterer Zerfallskanal auf. Alleiniger Zerfallskanal ist er dann, wenn die Umwandlungsenergie des Übergangs ZAX→Z−1AYdisplaystyle _Z^Amathrm X to _Z-1^Amathrm Y kleiner als die Ruheenergie eines Positrons (511 keV) ist. Auch der Elektroneneinfang beweist, dass Hüllenelektronen und Beta-Elektronen dieselbe Teilchenart sind.
Zerfall des freien Neutrons
Auch ein freies Neutron unterliegt dem Beta-Minus-Zerfall. Dabei wandelt es sich in ein Proton, ein Elektron-Antineutrino und ein Elektron um, das als Betastrahlung nachgewiesen werden kann:
- n→p+e−+ν¯edisplaystyle hboxnto hboxp+hboxe^-+overline nu _mathrm e
Die Lebensdauer für diesen Zerfall beträgt 880,3 ± 1,1 Sekunden,[4] das sind knapp 15 Minuten. Dies entspricht einer Halbwertszeit von rund 10 Minuten. In normaler Umgebung auf der Erde (z. B. in Luft) wird jedes frei werdende Neutron in viel kürzerer Zeit durch einen Atomkern eingefangen; deshalb spielt dieser Zerfall hier keine praktische Rolle.
Energiespektrum
Die Energieverteilung von Beta-Strahlung (Beta-Spektrum) ist im Gegensatz zu Alpha-Strahlung kontinuierlich, da sich die beim Zerfall frei werdende Energie nicht auf zwei, sondern auf drei Teilchen – Atomkern, Elektron/Positron sowie Antineutrino/Neutrino – verteilt.
Unter Erhaltung des Gesamtimpulses sind dadurch die Energien der einzelnen Teilchen nicht festgelegt (siehe Kinematik (Teilchenprozesse)).
Die Abbildung zeigt ein einfaches gemessenes Elektronenspektrum. Komplexere Spektren treten auf, wenn Betaübergänge zu verschiedenen Energieniveaus des Tochterkerns sich überlagern.
Beispiele für Beta-Höchstenergien Isotop Energie
(keV)Zer-
fallBemerkungen freies
Neutron
0782,33β−
003H
(Tritium)
0018,59β− Zweitniedrigste bekannte Energie, wird im Experiment KATRIN verwendet.
011C
0960,4
1982,4β+
ε
014C
0156,475β−
020F5390,86 β−
037K5125,48
6147,48β+
ε
187Re
0002,467β− Niedrigste bekannte Energie, soll im Experiment MARE verwendet werden
210Bi1162,2 β−
Anmerkung:
In Tabellenwerken wird oft die gesamte Übergangsenergie in den Grundzustand des Tochternuklids angegeben. Diese enthält gegebenenfalls nachfolgende Gammastrahlung u/o die Ruheenergie eines Elektron-Positron-Paars.
Konversionselektronen
Messungen der Energieverteilung der Elektronen von Betastrahlung ergeben oft Spektren, die neben dem breiten Kontinuum auch scharfe Linien (Peaks) enthalten. Dabei handelt es sich um Elektronen, die durch Innere Konversion eines angeregten Kernzustands aus der Hülle emittiert wurden. Dieser Anteil des Spektrums wurde früher[5], obwohl er mit dem eigentlichen Betazerfall nichts zu tun hat, als diskretes Betaspektrum bezeichnet.
Neutrinomasse
Die Form des Spektrums in der Nähe der maximalen Elektronen- oder Positronenenergie gibt Auskunft über die noch unbekannte Masse des Elektron-Neutrinos bzw. -Antineutrinos. Dazu muss das hochenergetische Ende (die letzten 1 bis 2 eV) eines Betaspektrums mit sehr hoher Genauigkeit vermessen werden. Ein abruptes Ende im Gegensatz zu einem kontinuierlichen Abfall bei der Höchstenergie würde eine von Null verschiedene Neutrinomasse zeigen – wie sie auf Grund der Neutrinooszillationen erwartet wird – und ihr Wert könnte bestimmt werden. Vorzugsweise erfolgt die Messung beim Beta-Zerfall von Nukliden mit geringer Zerfallsenergie wie Tritium (Experiment KATRIN) oder Rhenium-187 (Experiment MARE).
Polarisation
Betastrahlung ist in ihrer Emissionsrichtung longitudinal spinpolarisiert, das heißt, schnelle β−-Teilchen haben eine Polarisation entgegen der Flugrichtung (anschaulich: bewegen sich wie eine Linksschraube), schnelle β+-Teilchen eine Polarisation in Flugrichtung. Dies ist eine grundlagenphysikalisch interessante Eigenschaft der schwachen Wechselwirkung, da sie die Nichterhaltung der Parität beweist. Für Wirkungen und Anwendungen der Strahlung spielt sie jedoch praktisch keine Rolle.
Wechselwirkung mit Materie
Nuklid | Energie | Luft | Plexiglas | Glas |
---|---|---|---|---|
187Re | 2,5 keV | 1 cm | ||
3H | 19 keV | 8 cm | ||
14C | 156 keV | 65 cm | ||
35S | 167 keV | 70 cm | ||
131I | 600 keV | 250 cm | 2,6 mm | |
32P | 1710 keV | 710 cm | 7,2 mm | 4 mm |
Wenn Betateilchen in ein Material eindringen, finden Energieübertrag auf das Material und Ionisierung in einer oberflächennahen Schicht statt, die der Eindringtiefe der Teilchen entspricht.
Ist das eindringende Teilchen ein Positron (β+-Teilchen), trifft es sehr bald auf ein Elektron, also sein Antiteilchen. Dabei kommt es zur Annihilation, aus der (meist) zwei Photonen im Gammabereich hervorgehen.[6]
Biologische Wirkung
Ist der menschliche Körper von außen kommenden Betastrahlen ausgesetzt, werden nur Hautschichten geschädigt. Dort kann es aber zu intensiven Verbrennungen und daraus resultierenden Spätfolgen wie Hautkrebs kommen. Sind die Augen der Strahlung ausgesetzt, kann es zur Linsentrübung kommen.
Werden Betastrahler in den Körper aufgenommen (inkorporiert), können hohe Strahlenbelastungen in der Umgebung des Strahlers die Folge sein. Gut dokumentiert ist Schilddrüsenkrebs als Folge von radioaktivem Iod-131 (131I), das sich in der Schilddrüse sammelt. In der Literatur findet man auch Befürchtungen, dass Strontium-90 (90Sr) zu Knochenkrebs und Leukämie führen kann, da sich Strontium wie Calcium in den Knochen anreichert.
Strahlenschutz
Betastrahlen lassen sich mit einem einige Millimeter dicken Absorber (beispielsweise Aluminiumblech) gut abschirmen. Allerdings wird dabei ein Teil der Energie der Betateilchen in Röntgen-Bremsstrahlung umgewandelt. Um diesen Anteil zu verringern, sollte das Abschirmmaterial möglichst leichte Atome aufweisen, also von geringer Ordnungszahl sein. Dahinter kann dann ein zweiter Absorber aus Schwermetall die Bremsstrahlung abschirmen.
Bei β+-Strahlung ist zu beachten, dass sich die β+-Teilchen mit Elektronen annihilieren (siehe oben), wobei Photonen frei werden. Diese haben Energien von etwa 511 keV (entsprechend der Masse des Elektrons) und liegen damit im Bereich der Gamma-Strahlung.[6]
Für β-Strahler lässt sich eine materialabhängige maximale Reichweite feststellen, denn β-Teilchen geben ihre Energie (so wie Alphateilchen) in vielen Einzelstößen an Atomelektronen ab; die Strahlung wird also nicht exponentiell abgeschwächt wie Gammastrahlung. Aus dieser Erkenntnis resultiert die Auswahl abschirmender Materialien. Für einige der in der Forschung verbreiteten β-Strahler sind in der nebenstehenden Tabelle die Reichweiten in Luft, Plexiglas und Glas berechnet. Eine 1 cm dicke Plexiglasabschirmung kann bei den angegebenen Energien eine sichere Abschirmung ergeben.
Anwendungen
In der Nuklearmedizin werden Betastrahler (z. B. 131I, 90Y) in der Radionuklidtherapie verwendet. In der nuklearmedizinischen Diagnostik werden die β+-Strahler 18F, 11C, 13N und 15O bei der Positronen-Emissions-Tomographie als radioaktive Markierung der Tracer eingesetzt. Ausgewertet wird dabei die durch Paarvernichtung entstehende Strahlung.
In der Strahlentherapie werden Betastrahler (z. B. 90Sr, 106Ru) in der Brachytherapie genutzt.
Betastrahlen werden auch – neben Röntgen- und Gammastrahlung – bei der Strahlensterilisation eingesetzt.
Die Radiometrische Staubmessung, ein Verfahren zur Messung von gasgetragenen Stäuben, nutzt die Absorption von Betastrahlen.[7] Als Strahlungsquellen werden beispielsweise 14C und 85Kr verwendet.[8]
Forschungsgeschichte
Ernest Rutherford und Frederick Soddy entwickelten 1903 eine Hypothese, nach der die bereits 1896 von Antoine Henri Becquerel entdeckte Radioaktivität mit der Umwandlung von Elementen verknüpft ist. Der Betazerfall wurde demnach als Quelle der Betastrahlung ausgemacht. Davon ausgehend formulierten 1913 Kasimir Fajans und Soddy die sogenannten radioaktiven Verschiebungssätze, mit denen die natürlichen Zerfallsreihen durch aufeinanderfolgende Alpha- und Betazerfälle erklärt werden. Die Vorstellung, dass die Betaelektronen selbst wie die Alphateilchen aus dem Kern stammten, verfestigte sich 1913 im Kreis von Ernest Rutherford.
In der Anfangszeit galt lange als allgemeiner Konsens, dass Beta-Teilchen wie Alphateilchen ein für jedes radioaktive Element charakteristisches diskretes Spektrum haben. Experimente von Lise Meitner, Otto Hahn und Otto von Baeyer mit Photoplatten als Detektoren, die 1911[9] und den Folgejahren veröffentlicht wurden, sowie verbesserte Experimente von Jean Danysz in Paris 1913 zeigten aber ein komplexeres Spektrum mit einigen Anomalien (besonders bei Radium E, also bei 210Bi), die auf ein kontinuierliches Spektrum der Beta-Teilchen hinwiesen. Meitner hielt dies wie die meisten ihrer Kollegen zunächst für einen sekundären Effekt, also kein Kennzeichen der ursprünglich emittierten Elektronen. Erst die Experimente von James Chadwick im Labor von Hans Geiger in Berlin 1914 mit einem magnetischen Spektrometer und Zählrohren als Detektoren zeigten, dass das kontinuierliche Spektrum ein Kennzeichen der Betaelektronen selbst war.[10] Um diese scheinbare Nichterhaltung der Energie (und eine ebenfalls auftretende Verletzung von Impuls- und Drehimpulserhaltung) zu erklären, schlug Wolfgang Pauli 1930 in einem Brief die Beteiligung eines neutralen, extrem leichten Elementarteilchens am Zerfallsprozess vor, welches er „Neutron“ taufte. Enrico Fermi änderte diese Bezeichnung 1931 in Neutrino (italienisch für „kleines Neutrales“), zur Unterscheidung von dem nahezu zeitgleich entdeckten wesentlich schwereren Neutron. Die Identität der Beta-Teilchen mit atomaren Elektronen wurde 1948 von Maurice Goldhaber und Gertrude Scharff-Goldhaber nachgewiesen.[2] Der erste experimentelle Nachweis des Neutrinos gelang erst 1956 an einem der ersten großen Kernreaktoren (siehe Cowan-Reines-Neutrinoexperiment).
Der β+-Zerfall wurde 1934 von Irène und Frédéric Joliot-Curie entdeckt. Der Elektroneneinfang wurde 1935 von Hideki Yukawa theoretisch vorhergesagt und ist 1937 erstmals von Luis Walter Alvarez experimentell nachgewiesen worden.
Im Jahre 1956 gelang es mit einem von Chien-Shiung Wu durchgeführten Experiment, die kurz zuvor von Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yang postulierte Paritätsverletzung beim Betazerfall nachzuweisen.
Künstliche Elektronenstrahlen
Gelegentlich werden freie Elektronen, die künstlich (z. B. von einer Glühkathode) erzeugt und in einem Teilchenbeschleuniger auf hohe Energie gebracht wurden, ungenau ebenfalls als Betastrahlung bezeichnet. Auch der Name des Elektronenbeschleuniger-Typs Betatron weist darauf hin.
Siehe auch
- Mattauchsche Isobarenregel
- Doppelter Betazerfall
- Betavoltaik
Literatur
- Werner Stolz: Radioaktivität. Grundlagen – Messung – Anwendungen. 5. Aufl. Teubner, 2005, ISBN 3-519-53022-8.
Kernphysik
Theo Mayer-Kuckuk: Kernphysik. 6. Aufl. Teubner, 1994, ISBN 3-519-03223-6.
Klaus Bethge: Kernphysik. Springer, 1996, ISBN 3-540-61236-X.- Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen. Von den Atomen über das Standard-Modell bis zum Higgs-Boson. 2. Auflage. Springer, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-32578-6, doi:10.1007/978-3-642-32579-3.
- Jean-Louis Basdevant, James Rich, Michael Spiro: Fundamentals in Nuclear Physics. From Nuclear Structure to Cosmology. Springer 2005, ISBN 0-387-01672-4.
Forschungsgeschichte
- Carsten Jensen: Controversy and Consensus: Nuclear Beta Decay 1911–1934, Birkhäuser 2000
- Milorad Mlađenović: The History of Early Nuclear Physics (1896–1931). World Scientific, 1992, ISBN 981-02-0807-3.
Strahlenschutz
- Hanno Krieger: Grundlagen der Strahlungsphysik und des Strahlenschutzes. Vieweg+Teubner, 2007, ISBN 978-3-8351-0199-9.
- Claus Grupen: Grundkurs Strahlenschutz. Praxiswissen für den Umgang mit radioaktiven Stoffen. Springer, 2003, ISBN 3-540-00827-6.
- James E. Martin: Physics for Radiation Protection. Wiley, 2006, ISBN 0-471-35373-6.
Medizin
- Günter Goretzki: Medizinische Strahlenkunde. Physikalisch-technische Grundlagen. Urban&Fischer, 2004, ISBN 3-437-47200-3.
- Thomas Herrmann, Michael Baumann und Wolfgang Dörr: Klinische Strahlenbiologie – kurz und bündig. Urban&Fischer, 2006, ISBN 3-437-23960-0.
Weblinks
Wiktionary: Betastrahlung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Strahlenschutzverordnung beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (PDF; 408 KB)
Das „Glossar Strahlenschutz“ des Forschungszentrums Jülich mit zahlreichen Begriffserklärungen und Definitionen zur Strahlung, Strahlungsmessung und Exposition/Dosimetrie.
Einzelnachweise
↑ siehe z. B. Max Planck: Das Weltbild der neuen Physik. Leipzig: Barth, 1929, S. 17/18.
↑ ab Maurice Goldhaber, Gertrude Scharff-Goldhaber: Identification of beta-rays with atomic electrons. In: Physical Review. Volume 73, Nr. 12, 1948, S. 1472–1473, doi:10.1103/PhysRev.73.1472.
↑ F Bosch, D R Atanasov, C Brandau, I Dillmann, C Dimopoulou: Beta decay of highly charged ions. In: Physica Scripta. T156, doi:10.1088/0031-8949/2013/t156/014025 (iop.org).
↑ K.A. Olive et al. (Particle Data Group), Chin. Phys. C38, 090001 (2014): N Baryons Summary Table
↑ z. B. Ch. Gerthsen: Physik. 6. Auflage, Springer 1960, S. 329.
↑ ab Hanno Krieger: Grundlagen der Strahlungsphysik und des Strahlenschutzes 2. Auflage. S. 109.
↑ Heinrich Dresia, Franz Spohr: Anwendungs- und Fehlermöglichkeiten der radiometrischen Staubmessung zur Überwachung der Emission, Immission und von Arbeitsplätzen. In: Staub – Reinhalt. Luft. 38, Nr. 11, 1978, ISSN 0949-8036, S. 431–435.
↑ Franz Joseph Dreyhaupt (Hrsg.): VDI-Lexikon Umwelttechnik. VDI-Verlag Düsseldorf 1994, ISBN 3-18-400891-6, S. 1119.
↑ O. v. Baeyer, L. Meitner, O. Hahn: Magnetische Spektren der Beta-Strahlen des Radiums, Physikalische Zeitschrift, Band 12, 1911, S. 1099–1101.
↑ Chadwick: Intensitätsverteilung im magnetischen Spektrum der Betastrahlen von Radium B+C, Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Band 16, 1914, S. 383–391.