Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten




Räumlicher Geltungsbereich (rot) zum Ende des 19. Jahrhunderts


Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (PrALR)[1] war eine Kodifikation für den Staat Preußen, die unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. von den Rechtsgelehrten Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein unter Federführung des preußischen Großkanzlers Johann Heinrich von Carmer erarbeitet und im Jahre 1794 erlassen wurde. In den meisten Teilen Preußen galt es bis zum Inkrafttreten des Strafgesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1851; zu den Ausnahmen zählten vor allem die linksrheinischen Gebiete mit sogenanntem Rheinischem Recht, die erst nach dem Wiener Kongress 1815 preußisch wurden und wo noch über die Angliederung an Preußen hinaus bis 1870 der Code pénal von 1810 und noch bis 1900 der Code civil von 1804 galt.


Das PrALR war der erste und bis heute einzige neuzeitliche Versuch einer umfassenden und zusammenhängenden Kodifikation des Zivilrechts, des Strafrechts und weiter Teile des öffentlichen Rechts in einem einzigen Gesetzbuch.




Inhaltsverzeichnis





  • 1 Entstehungsgeschichte


  • 2 Geltungsbereich


  • 3 Inhalt


  • 4 Würdigung


  • 5 Moderne Wirkung


  • 6 Siehe auch


  • 7 Literatur


  • 8 Weblinks


  • 9 Einzelnachweise




Entstehungsgeschichte |


Die Wurzeln des PrALR reichen zurück zu den Überlegungen Friedrichs I., ein einheitliches Recht zu schaffen. Eine grundlegende Kodifikation wurde allerdings erst von Friedrich dem Großen in Auftrag gegeben, umgesetzt werden sollte es durch den Großkanzler Samuel von Cocceji. Dessen Versuch, der Schaffung des sogenannten Project eines Corporis Juris Fridericiani (1749/1751), blieb jedoch erfolglos.


Maßgebliches Anliegen für die spätere Entwicklung des Landrechts war der Wunsch Friedrichs II. nach einem klaren und eindeutigen Recht. Friedrich ließ sich nachhaltig vom legendären Müller-Arnold-Fall beeindrucken und nahm diesen zum Anlass für eine umfassende Justiz- und Gesetzesreform. Insbesondere sollte die Macht der Juristen durch einen möglichst präzisen Gesetzeswortlaut begrenzt werden.[2] Dies wurde durch zahlreiche Detail- und Einzelregelungen erreicht und durch eine deutliche Absage an eine rechtliche Präjudizienwirkung:





„Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter, soll, bey künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden.“




§ 6 der Einleitung zum ALR[3]


Es verblieb eine sehr beschränkte Kompetenz des Richters zur Ausfüllung von Lücken, der Vorrang des Gesetzes wurde in verschiedenen gesetzlichen Regelungen aber fixiert.[4] Außerdem hatte Friedrich ein Kommentierungsverbot (Analogieverbot) verfügt mit dem Ziel, den vorherrschenden Rechtsmissbrauch der Juristen zu beenden. Nur der Wortsinn durfte ausgelegt werden. Im Zweifel wurde eine eigens eingerichtete Gesetzeskommission befragt, die jedoch wieder abgeschafft werden musste, da die häufigen Anfragen die Rechtsprechung lähmten. Das PrALR sollte nun für jedermann das Recht in verständlicher Form „nachlesbar“ machen. Es erhielt den Charakter eines Aufklärungsgesetzes.[5] Seinen Anspruch, eine umfassende Kodifikation des geltenden Rechts abzubilden, konnte das ehrgeizige Projekt nicht lange aufrecht erhalten.[6]


Mit Kabinettsorder vom 14. April 1780 wurde Großkanzler Johann Heinrich von Carmer mit der Ausarbeitung beauftragt, der die Arbeiten an dem Gesetzeswerk nach dem Willen des Königs mehreren Personen übertrug. Maßgeblich schlug sich das Wirken von Carl Gottlieb Svarez (Zivilrecht) und Ernst Ferdinand Klein (Strafrecht) im Entwurf nieder.


Das PrALR wurde 1792 zunächst als „Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten“ (AGB) fertiggestellt. Unter dem Eindruck der Ereignisse der Französischen Revolution erfolgte eine nochmalige Überarbeitung, bei der die reaktionären und konservativen Eliten in Preußen ihre Bedenken gegen die freiheitliche Grundtendenz des Gesetzes durchsetzen konnten: Viele freiheitliche und vernunftrechtliche Bestimmungen wurden entfernt oder eingeschränkt, so die Wohlfahrt als Staatszweck. Das Gesetz trat dadurch erst unter Friedrichs Nachfolger Friedrich Wilhelm II. am 1. Juni 1794 in Kraft.



Geltungsbereich |


Das PrALR ersetzte subsidiär unterschiedliche geltende Rechtsquellen wie das Römische Recht und das Sachsenrecht. Es galt ebenfalls nur subsidiär, d. h., es kam nur dann zur Anwendung, wenn die lokalen Rechtsquellen keine Regelung trafen. Es sorgte daher nicht für eine umfassende Rechtseinheit im Lande. Es setzte lediglich ein umfassendes einheitliches Recht für Gebiete ohne eigene althergebrachte Rechtsquellen, insbesondere in den vormals polnischen Provinzen, mit Ausnahme der Städte, die hier häufig über eigene Rechtsquellen verfügten. In der erst nach dem Wiener Kongress 1814 preußisch gewordenen Rheinprovinz galt nicht das PrALR, sondern der eingedeutschte Code civil, der sich im liberalen Bürgertum aufgrund seiner freiheitlichen Grundgedanken wie Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, Eigentums-, Vertrags- und Testierfreiheit, Geschworenengerichte großer Beliebtheit erfreute.



Inhalt |


Das PrALR regelte, soweit es zu dieser Zeit vorgesehen war, alle Rechtsbereiche, so das allgemeine Zivilrecht, Familien- und Erbrecht, Lehnsrecht, Ständerecht, Gemeinderecht, Staatsrecht, Kirchenrecht, Polizeirecht, Strafrecht und Strafvollzugsrecht in über 19.000 Vorschriften. Jeder mögliche Fall sollte exakt geregelt sein. Auffällig ist insbesondere der weitreichende Formzwang (Schriftformerfordernisse) für Rechtsgeschäfte (ALR I 5 §§ 109–184).[7][8]



Würdigung |


Rechtspolitisch war die Einführung des PrALR ein Fortschritt, auch wenn die feudale Ständeordnung im 19. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß war und immer mehr die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bremste (siehe dazu Bauernbefreiung und Leibeigenschaft). Vor allem der Vorrang des Naturrechts vor dem Römischen Recht war ein großer Fortschritt. Auch rechtspolitische Grundsätze wie nullum crimen sine lege oder dass der Staat sein Eingriffsrecht dem Bürger nachweisen muss, waren neu.


Insbesondere der Entwurf des PrALR spiegelte eine veränderte Staatsauffassung von Staat und Recht wider, die im Staatsdenken von Friedrich II. ihren Ursprung hatte. Jedoch beabsichtigte das Gesetz nicht eine konstitutionelle Einschränkung der Monarchie, sondern stellte lediglich ein Bekenntnis zur Selbstbeschränkung dar. Dieses wurde durch die Umarbeitung zum PrALR abgeschwächt. So war das Verbot von Machtsprüchen des Königs mit dem Ziel, der Willkür des Herrschers Grenzen zu setzen, im PrALR nicht mehr enthalten, obwohl es im Fall des Müllers Arnold gerade um einen Machtspruch des Königs gegangen war.


Auch die Rechte des Adels wurden weiter gefestigt und die bestehende Sozialordnung wie der Zunftzwang beibehalten. Dadurch konservierte das PrALR im Wirtschaftsleben bestehende Besitzstände und bremste die Entwicklung eines bürgerlich geprägten Staatswesens.



Moderne Wirkung |


Im heutigen Recht spielt das Allgemeine Landrecht auch wegen der umfassenden Kodifikation des Privatrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch kaum noch eine Rolle. Landesrechtlich gelten einzelne Vorschriften bis heute fort. So entschied beispielsweise das Landgericht Neubrandenburg im Jahr 2011, dass die nachbarrechtlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts in Teilen Pommerns noch anwendbar sind.[9]


Allerdings werden noch heute die §§ 74, 75 der Einleitung zum PrALR als bundesweit geltendes Gewohnheitsrecht in seiner richterrechtlichen Ausprägung herangezogen. Die Vorschriften enthalten den Aufopferungsgedanken und ermöglichen einen Ersatzanspruch gegen den Staat bei


  • rechtmäßigen hoheitlichen Eingriffen in Eigentum, die zu einer besonderen Belastung führen (enteignender Eingriff);

  • rechtswidrigen hoheitlichen Eingriffen in Eigentum (enteignungsgleicher Eingriff);

  • hoheitlichen Eingriffen in andere grundrechtlich geschützte Rechtspositionen (Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit), die zu einer besonderen Belastung führen und sofern keine besonderen gesetzlichen Regelungen bestehen.[10]




„Einzelne Rechte und Vorteile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Kollision) eintritt, nachstehen.“




§ 74 PrALR





„Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten.“




§ 75 PrALR[11]



Siehe auch |


  • § 10 II 17 ALR

  • Codex Maximilianeus bavaricus civilis


  • Österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)


Literatur |



  • Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Von 1794. [2. Auflage. Decker, Berlin 1794, 2 Teile und Register in 3 Bänden] Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert. 3., erweiterte Auflage. Luchterhand, Neuwied u. a. 1996, ISBN 3-472-02596-4.

  • Matthias Albrecht: Die Methode der preußischen Richter in der Anwendung des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zur Rechtsanwendung im späten Naturrecht (= Schriften zur preußischen Rechtsgeschichte. Bd. 2). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2005, ISBN 3-631-52620-2 (Zugleich: Kiel, Univ., Diss., 2004).

  • Gerhard Deter, Das preußische Allgemeine Landrecht in der Provinz Westfalen – Rezeption und Wirkung, in: Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, hrsgg. von Karl Teppe und Michael Epkenhans, Paderborn 1991, S. 82–97


  • Ulrich Eisenhardt: Deutsche Rechtsgeschichte. 5., überarbeitete Auflage. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-58090-1, S. 201 ff.

  • Elmar Geus: Mörder, Diebe, Räuber. Historische Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch (= Spektrum Kulturwissenschaften. Bd. 6). Scrîpvaz-Verlag Krauskopf, Berlin 2002, ISBN 3-931278-14-X (Zugleich: Frankfurt (Oder), Europa-Univ., Diss., 2001: Strafrechtsreformen von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch).


  • Iselin Gundermann, Ralf Karsten Jürgensen: Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten 1794. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz. v. Hase und Koehler, Mainz 1994, ISBN 3-7758-1315-2.


  • Uwe-Jens Heuer: Allgemeines Landrecht und Klassenkampf. Die Auseinandersetzungen um die Prinzipien des Allgemeinen Landrechts Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck der Krise des Feudalsystems in Preußen. VEB Deutscher Zentralverlag, Berlin 1960.


  • Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848 (= Industrielle Welt. Bd. 7). Sonderausgabe. Klett-Cotta, Stuttgart 1987, ISBN 3-608-95483-X.

  • Andreas Schwennicke: Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Bd. 61). Klostermann, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-465-02585-7 (Zugleich: München, Univ., Diss., 1993).


Weblinks |



  • Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (als PDF Versionen).

  • Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1. Juni 1794): Einleitung, Erster Theil, Zweyter Theil, auf: OpinioIuris: Die freie juristische Bibliothek.


Einzelnachweise |



  1. Zur üblichen Abkürzung PrALR siehe die Informationen im Juraforum und im Abkürzungsverzeichnis vom Verlag C.H.Beck.


  2. Helmut Coing: Europäisches Privatrecht, Bd. 2: 1800–1914, München 1989. S. 11.


  3. Mehrdad Payandeh: Judikative Rechtserzeugung. Theorie, Dogmatik und Methodik der Wirkungen von Präjudizien. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-155034-8. S. 75.


  4. § 46 (Wortsinnauslegung) und § 60 (Schaffung/Aufhebung von Gesetzesrecht) der Einleitung des ALR.


  5. Hans Hermann Seiler: Geschichte und Gegenwart im Zivilrecht, Heymanns, Köln 2005, ISBN=978-3-452-25387-3, S. 307–312 (311).


  6. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, weitere Aufl. 1967, 1996, 2016. S. 329 ff.


  7. Ernst Ferdinand Klein: System des Preußischen Civilrechts, Halle 1801, § 409, S. 215; Wilhelm Bornemann: Systematische Darstellung des Preußischen Civilrechts, Band III, Berlin 1835, § 246, S. 400 ff., 432; Band II, 3. Aufl., Berlin 1858, § 655, S. 380 f.


  8. Götz Landwehr: Der Vertrauensschutz des Dritten bei der gewillkürten Stellvertretung. In: Reinhard Zimmermann u. a. (Hrsg.): Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik. C.F. Müller, Heidelberg 1999, S. 221 f.


  9. Landgericht Neubrandenburg, Urteil vom 15. September 2011, Az. 1 S 100/10 rechtskräftig, nachfolgend BGH, Beschluss vom 23. April 2012, Az. V ZR 223/11, Volltext.


  10. Hartmut Maurer: Allgemeines Verwaltungsrecht. 17., überarbeitete und ergänzte Auflage. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-57100-8, § 27 Randnummern 87 ff., 106, 107 ff.


  11. Wortlaut nach: Peter Bassenge. In: Palandt: Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Nebengesetzen (= Beck'sche Kurz-Kommentare. Bd. 7). 69., neubearbeitete Auflage. C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59488-5, Überblick vor § 903 Randnummer 48.




Rechtshinweis
Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!







Popular posts from this blog

Use pre created SQLite database for Android project in kotlin

Darth Vader #20

Ondo