Kirchturm




Westfassade des Ulmer Münsters, des mit 161,53 m weltweit höchsten Kirchturms


Ein Kirchturm ist der zu einem Kirchengebäude gehörende Turm. In den meisten christlich geprägten Ländern ist Versammlungshalle mit Turm das Grundschema von Kirchengebäuden, obwohl es für den Turm keine theologische Begründung gibt.




Inhaltsverzeichnis





  • 1 Kulturelle Bezüge


  • 2 Entwicklung


  • 3 Funktionen

    • 3.1 Geläut


    • 3.2 Türmer


    • 3.3 Zeitanzeige


    • 3.4 Geodäsie


    • 3.5 Aussichtspunkt


    • 3.6 Weitere Funktionen



  • 4 Position


  • 5 Bauformen

    • 5.1 Soloturm


    • 5.2 Turmgrundrisse


    • 5.3 Dachreiter und andere Türmchen



  • 6 Turmdetails

    • 6.1 Dächer


    • 6.2 Turmknopf



  • 7 Gotische Kirchtürme

    • 7.1 Baugeschichte


    • 7.2 Streitpunkt: Flacher Abschluss


    • 7.3 Gebäudegeschichten



  • 8 Andere Glockentürme


  • 9 Superlative


  • 10 Literatur


  • 11 Weblinks


  • 12 Einzelnachweise




Kulturelle Bezüge |


Hochragende Steintürme und -säulen lassen sich in den ältesten Kulturen finden. Sie symbolisieren überwiegend die männliche Fruchtbarkeit. Im alten Orient gab es die mesopotamischen Zikkurats. Sie lieferten über die Legende vom Turmbau zu Babel christlichen Baumeistern die Idee des himmelhohen Turms.


Die Antike kannte Türme weder am Tempel noch an der profanen Basilika. In der ersten Zeit des christlichen Kirchenbaus, also seit Konstantin, hatten Türme keine Bedeutung. Seit dem 6. Jahrhundert bekamen Kirchen in Italien freistehende Glockentürme (Campanile, von Campana, Glocke), beispielsweise in Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna. Dass der Turm sich zu einem typischen Element des Kirchenbaus entwickelte, hängt demnach mit der Rolle der Kirchenglocke als eines akustischen Zeichengebers der christlichen Kirche zusammen. Allein aus der Funktion zur Glockenaufhängung lassen sich die aufwändigen Turmbauten des Mittelalters jedoch nicht begründen. Die Symbolik des Christentums kann das Phänomen des Kirchturms ebenfalls nicht erklären. Eine sakrale Raumnutzung der Türme erfolgte im Erdgeschoss, als Kapelle, als Vorraum oder Teil des Kirchenschiffs. Obere Geschosse konnten als Empore oder Kapelle dienen, wobei Turmkapellen oft dem Erzengel Michael geweiht sind.


Auch in China haben Glocken seit ältester Zeit kultische Funktion, doch entwickelten sich die sakralen Turmbauten Asiens, die Stupas und Pagoden, aus Reliquien- und Grabbauten. Seit dem 7. Jahrhundert entstanden die islamischen Moscheen mit dem Minarett. In ihrer Funktion als erhöhte Standorte für Schallgeber (Gebetsruf) sind sie den christlichen Glockentürmen vergleichbar, auch wenn die Minarette nicht nur für den Gebetsruf entstanden.



Entwicklung |





Campanile von Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna




Kathedrale von Brechin (Schottland): Rundturm rechts, 10. Jh., eckiger Turm links, 13./14. Jh.


Separate Rundtürme sowie Rundturmkirchen gehören zu den frühen Bauformen auf den Britischen Inseln und erscheinen auch auf dem St. Galler Klosterplan. Eine Vorform des Kirchturms sind die turmartigen Westwerke der Karolinger- und Ottonenzeit.





Stiftskirche Gandersheim: Westriegel


Erst im 11. Jahrhundert wurden Kirchtürme zum dominierenden Element der Kirchenbauten der Westkirche und damit von abendländischen Stadtsilhouetten. Ab dem 12. Jahrhundert dominierten die Westtürme oder, in Deutschland und Skandinavien auch bei großen Kirchen, der eine Westturm. Daneben gibt es Chortürme, Chorflankentürme, Querhaustürme und Vierungstürme. Die Doppelturmfassade entstand in der Normandie und verbreitete sich in Nordfrankreich als dominante Bauform. Mit der Ausbreitung der Gotik trat sie ihren Siegeszug in Europa an. Im Turm scheint der Höhendrang des gotischen Baustils sich zu verwirklichen. Besonders in den deutschen und niederländischen Pfarrkirchen der Spätgotik wurde der Turm zum Symbol kommunalen Ehrgeizes, bei dem die profane Ruhmsucht sich mit dem Gotteslob verbindet.


Dass der Kirchturm als repräsentatives Symbol von Macht und Größe kritisch wahrgenommen wird, zeigt sich darin, dass die auf Demut und Bescheidenheit zielenden Orden der Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner ein Verbot von Kirchtürmen für ihre Klöster erließen. In der italienischen Renaissance wurde oft auf Kirchtürme verzichtet, da das an der Antike geschulte Ideal der Proportionen keine Bauten mit Türmen erlaubte. Doch erlebte der Turmbau im deutschen Barock eine Erneuerung, wie zahlreiche Doppelturmfassaden süddeutscher Kirchen belegen. Der Klassizismus versuchte die Turmbauten in den antikisch gegliederten Baukörper zu integrieren. Mit der Neogotik wurden Türme wieder zu herausragenden, städtebaulich wirksamen Symbolbauten der christlichen Gesellschaft, die zunehmend in Konkurrenz mit profanen Hochbauten für Industrie und Wirtschaft traten. Turmvollendungen gotischer Kathedralen wie Kölner Dom und Ulmer Münster führten zu einer Kirchturmblüte. Die Kirchenbauarchitektur des 20. Jahrhunderts entwickelte neue Bauformen, griff oft auf den Campanile als Solitär zurück oder verzichtete ganz auf Turmbauten.


Kirchengebäude sind noch heute traditionell mit einem Kirchturm versehen.



Funktionen |


Kirchtürme hatten und haben oft neben ihrer eigentlichen Funktion auch andere, zu denen sie wegen ihrer Höhe praktischerweise genutzt werden:



  • Glockenturm, in früheren Zeiten nicht nur zur Ankündigung des Gottesdienstes, sondern auch zu Warnzwecken, etwa durch Läuten der Feuerglocke

  • Wachturm, bis ins 19. Jahrhundert Arbeitsplatz des Türmers, der nach militärischer Bedrohung und Bränden Ausschau hielt

  • Repräsentation

  • Wehr- und Fluchtturm, siehe Wehrkirche

  • In Meeresnähe als Seezeichen (Plumpe Turm bei Burghluis) oder Leuchtturm

  • Seit Erfindung mechanischer Uhrwerke als Uhrturm

  • Telegrafenstation in der nur wenige Jahrzehnte währenden Zeit der optischen Telegrafen

  • Wasserturm (sehr selten)

  • In jüngerer Zeit Aussichtsturm


Geläut |




Rotierend gelagerte Glocken an der Abteikirche St-Victor in Marseille


Traditionell trugen Kirchtürme mehrere Kirchenglocken. Kleine Glocken mit hohem Klang waren die Sturmglocke und die Totenglocke. Die großen Glocken sind im Klang harmonisch aufeinander abgestimmt. Große Glocken können eine erhebliche Belastung für das Mauerwerk darstellen. Daher gibt es verschiedene Arten der Glockenaufhängung. Bei der verbreitetsten pendelt die Glocke an der Achse hin und her und der Klöppel schwingt gemeinsam mit der Glocke als Doppelpendel. In manchen Kirchtürmen des Mittelmeerraums sind die Glocken fest aufgehängt, und nur die Klöppel pendeln hin und her. In manchen spanischen Kirchtürmen rotieren die Glocken um eine Achse in Höhe ihres Schwerpunktes. Der entstehende Klang ist – im Sinne wissenschaftlicher Akustik – weniger harmonisch. Beispiele sind die Abteikirche St-Victor in Marseille und die Kathedrale von Zamora.



Türmer |


In mittelalterlichen Städten gab es in mindestens einem der höchsten Kirchtürme eine Wohnung für den Türmer. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde das Amt des Türmers allgemein abgeschafft.



Zeitanzeige |


Viele Kirchtürme sind mit einer Turmuhr ausgestattet, wobei meist auf mehreren Seiten des Turmes ein Zifferblatt vorhanden ist. Die Turmuhr diente früher den Bewohnern des Ortes als „Zeitnormal“ zum Einstellen ihrer Uhren (sofern sie nicht die einzige Uhr im Ort war) und machte durch den Glockenschlag die Zeit bei der Arbeit auf den umliegenden Feldern wahrnehmbar. Wurden früher die Turmuhren mit Gewichten in Gang gehalten, so sind sie seit dem 20. Jahrhundert zunehmend elektrifiziert. Ausgetauschte Uhrwerke oder Zifferblätter werden häufig in Museen oder Rathäusern ausgestellt.


Einige Kirchtürme besitzen auf einer Turmseite mehrere Zifferblätter. Bei modernen Kirchtürmen wird häufig auf eine Turmuhr verzichtet.



Geodäsie |


Für Geodäten sind Kirchtürme ideale Festpunkte, die eindeutig zuzuordnen und leicht verfügbar sind. Seitlich des Eingangs befindet sich oft ein Turmbolzen, der als stabiler Nivellementpunkt dienen kann. Diese Funktion war am Ende des Zweiten Weltkriegs gelegentlich ein Grund, warum Kirchtürme von der deutschen Wehrmacht gesprengt wurden, sie sollten nicht der Orientierung der heranrückenden alliierten Truppen dienen (beispielsweise Kirche Berlin-Malchow).




Optischer Telegraf auf dem Mittelturm von St. Pantaleon in Köln, 1832



Aussichtspunkt |


Einige Kirchtürme besitzen eine Aussichtsplattform. Allerdings sind diese im Regelfall – im Unterschied zu den Aussichtsplattformen auf Wasser- und Fernsehtürmen – nur über ein Treppenhaus zugänglich, weil der Einbau eines Aufzugs meist nicht möglich ist.



Weitere Funktionen |


Manche Kirchtürme werden für den Mobilfunk genutzt. Allerdings müssen hierbei die Antennen wegen Denkmalschutzauflagen meist unter dem Dach angebracht werden.


Vereinzelt werden Kirchtürme für Werbezwecke genutzt.


Der Kirchturm war häufig auch die Örtlichkeit, in dem vor der Gründung von Feuerwehren die aus Leder oder Stroh gefertigten gemeindeeigenen Löscheimer zur Brandbekämpfung aufbewahrt wurden.[1]



Position |


Die häufigste Position ist das dem (Haupt-)Altar gegenüberliegende Ende des Kirchenschiffs. Traditionell ist dies das Westende, aber seit dem 18. Jahrhundert haben städtebauliche Überlegungen Vorrang vor der im Mittelalter üblichen Ost-West-Orientierung der Kirchen. Es gibt auch Kirchen mit einem seitlich angebauten Turm, mit freistehendem Turm, oder mit zwei bis fünf etwa gleich hohen Türmen.



Bauformen |




Achteckiger Kirchturm in Oristano (Sardinien)





Glockengiebel („Espadaña“) von San Pablo in Palencia (Kastilien und León)




Romanischer Glockenturm der Hinter Kirche in Hinte (Ostfriesland)




Vier gleich hohe Türme des Bamberger Doms




Die fünftürmige Vor Frue Kirke in Kalundborg (Sjælland)





Marienkirche in Lübeck: Westtürme mit Rhombenhelmen und Dachreiter



Soloturm |


Der Kirchturm als solcher entwickelte sich erst in romanischer Zeit, als mit der Rekonquista und den Kreuzzügen der Baukörper des Minarett in die Kirchenarchitektur aufgenommen wurde. Freistehende Kirchtürme in Italien (Campanile) sind zumeist schlank und hoch. Freistehende Türme können auch eher Haus denn Turm sein, wie in Ostfriesland, wo sie oft niedriger als das Kirchenschiff sind. Oder es gibt nur einen unscheinbaren Glockenstuhl, wie die Glockenstapel Nordfrieslands.


Bei manchen romanischen Kreuzbasiliken ist der Vierungsturm der höchste Turm (Basilika Saint-Sernin in Toulouse, Limburger Dom). In Vierungstürmen reicht auch der Innenraum über die Firsthöhe des Hauptschiffes hinaus, das Licht durch Fenster des Turms erhält. Sonst wird ein Westturm angebaut, in dem Portal und Portikus untergebracht sind, bei den Basiliken zwei, zwischen denen sich das Westwerk spannt. Ebenfalls in der Romanik wurde statt eines Turmes gern ein breitgelagerter Westriegel gebaut. Selten finden sich Vierturmkirchen.


Nach der Gotik kam man mit der Renaissance wieder auf tempelartige Bauten mit wenig ausgeprägtem Turm zurück. Wie schon nach der Rekonquista, von dem sich der Campanile ableitet, finden sich auch im Mittelmeerraum und in Mitteleuropa wieder in der Zeit der Türkenkriege vermehrt freistehende Türme.


In der modernen Kirchenarchitektur geht man zunehmend wieder zu campanileartigen Turmbauten zurück oder sucht andere formale und funktionale Interpretationen des Zwecks als Landmarke und als Geläutträger.



Turmgrundrisse |




Plan der Grote of Sint-Jacobskerk in Den Haag mit sechseckigem Turm


Die Formen und Dimensionen der Grundflächen weichen stark voneinander ab. Sie sind quadratisch, rechteckig, rund oder polygonal. Rundtürme sind regional sogar häufig. Sechseckige Beispiele sind Nieuwerkerk auf Schouwen-Duiveland und die Grote Kerk in Den Haag. Das bekannteste deutsche Beispiel ist der neue Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. Oktogonal ist zum Beispiel der Campanile des Doms von Oristano auf Sardinien.



Dachreiter und andere Türmchen |




Geläutträger der Autobahnkirche Baden-Baden


Ein kleiner Turm auf dem Dachfirst des Kirchenschiffes wird Dachreiter genannt. Er kann sich über der Vierung befinden, ohne deshalb ein Vierungsturm zu sein. Manche Mönchsorden wie die Zisterzienser und die Bettelorden bauten als Ausdruck christlicher Demut nur einen Dachreiter – auch bei Kirchen stolzen Ausmaßes.


Daneben gibt es Kleinformen, bestehend aus ein oder mehreren Bögen zur Glockenaufhängung, die oben auf der Giebelwand stehen (Glockengiebel, besonders in Südeuropa, aber auch nördlicher, etwa bei der Kirche von Germigny-des-Prés).




Turm der evangelischen Kirche in Glücksburg (Schleswig-Holstein) aus den 1960er Jahren



Turmdetails |



Dächer |




Kirche Zum Frieden Gottes in Ellichleben (Thüringen) mit „thüringischer Haube“


Frühe Kirchtürme, beispielsweise die der byzantinischen Kirchen von Ravenna, hatten nicht sehr steile Pyramiden- oder Kegeldächer. Auch Sattel- und Walmdächer gab es, die sich in ihren Proportionen wenig von Hausdächern unterschieden.


In Spätromanik und Gotik baute man gerne hohe spitze Kirchturmdächer, aber vor allem in Frankreich und England verzichtete man in der Gotik oft auf die Turmspitze und ließ das reich verzierte hohe Gemäuer mit einer Plattform enden. Hölzerne Dachstühle wurden zunächst oft mit Blei gedeckt. Die heutige Kupferdeckung derselben Türme ist in der Regel jünger. Typisch wurde der Rhombenhelm. Bei dieser Form können alle Wände eines Turms als Giebel enden, ohne dass man mehrere Dachfirste braucht. Gemauerte Dächer entzünden sich nicht bei Blitzschlag, erhöhten aber das Gewicht. So errichtete man mancherorts Turmspitzen aus Maßwerk, wie beim Freiburger Münster. Zwiebeltürme besitzen eine zwiebelförmige Turmhaube. Ein Beispiel für eine Barockkirche mit einem Zwiebelturm ist die evangelische Johanniskirche im Frankfurter Stadtteil Bornheim, die eine viereckige Turmhaube besitzt.


In der Renaissance und im Barock kamen modifizierte Kuppeln mit aufgesetzter Laterne als Kirchturmdach in Mode, sogenannte Welsche Hauben. Besonders im deutschsprachigen Alpengebiet kam der Zwiebelturm auf. Eine andere regionaltypische Form ist die „thüringische Haube“.


Als im 19. Jahrhundert immer mehr große Büro- und Mietshäuser gebaut wurden, besann man sich auf die hohe gotische Turmspitze, um städtebauliche Akzente zu schaffen. Dank Blitzableiter waren sie nicht mehr so feuergefährlich. Viele im Mittelalter unvollendet gebliebene Kirchtürme wurden nun erstmals mit hohen Kupferdächern ausgestattet.





Geflammter Turm mit geschraubter Spitze von Notre Dame Puiseaux (Centre-Val de Loire)





Zwiebelturm mit Welscher Haube der Johanniskirche in Frankfurt-Bornheim


Eine besondere Form ist der gedrehte Kirchturm bzw. sein geschraubtes Dach. Die geflammte (gewundene bzw. verwundene) Form, die in Europa etwa 100 Mal vorkommt, ist auch in Deutschland 19 Mal vertreten; u. a. bei St. Clemens in Mayen (Rheinland-Pfalz).



Turmknopf |


In der Kugel von Kirchturmspitzen (dem Turmknopf oder auch Turmzier genannt) werden traditionell Zeitkapseln hinterlegt, um zeittypische Dinge (etwa Münzen, Geldscheine oder Zeitungen des Tages) an die nächsten Generationen weiterzugeben.



Gotische Kirchtürme |



Baugeschichte |


Oft wurden die Türme der gotischen Kirchen zuletzt gebaut, da ihnen keine besondere Bedeutung für die Liturgie zukam. Nicht selten stellte man im 16. Jahrhundert ihren Bau ein und nahm ihn erst im 19. Jahrhundert im Zuge des Historismus mehr oder weniger werkgetreu wieder auf. Modernere Ingenieurleistungen vermochten zu verhindern, was im Mittelalter gang und gäbe war, den Einsturz halbfertiger Türme.



Streitpunkt: Flacher Abschluss |





Konstanzer Münster um 1819





Konstanzer Münster heute





Notre Dame de Paris: Türme unvollendet oder flacher Abschluss geplant?





Notre-Dame de Coutances (Normandie): Romanische Türme, im 13. Jh. gotisch umgestaltet






Strassburg Steinbach.png
StrassburgMuenster.jpg
Liebfrauenmünster zu Straßburg: Entwurf der Westfassade, spätes 13. Jh.
Nach mehreren, aufeinander folgenden Plänen schließlich gebaute Westfassade

Angesichts vieler „abgeschnitten“ wirkender Fassadentürme (etwa bei Notre Dame in Paris) wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob diese Kirchen mit spitzen Türmen geplant, aber nie vollendet worden sind, oder ob der flache Turmabschluss von Anfang an geplant war.





„Die Bauarbeiten an einer Kathedrale begannen normalerweise mit dem Chor und schritten über das Mittelschiff fort zur Fassade, die nur selten vollendet wurde, ehe das Geld ausging. Der Kathedralenbau war nämlich finanziell ein Mammutunternehmen und soll nach Angaben von einigen Historikern die wirtschaftliche Stabilität Frankreichs ernstlich beeinträchtigt haben.“[2]





Die wissenschaftliche Forschung steht vor dem Problem, dass nur sehr wenige zeitgenössische Dokumente erhalten sind, die Aufschluss über die originäre Planung geben. Bei einigen, wie der Kathedrale von Laon, liegen Pläne von hohen Türmen mit Spitzen vor.


Dementsprechend konzipierte Eugène Viollet-le-Duc, der führende französische Denkmalpfleger des 19. Jahrhunderts, in einer Zeichnung das „Idealbild einer Kathedrale“ mit diversen spitzen Türmen.[3]


Im Mittelalter vollendete Fassaden französischer Kathedralen mit spitzen Türmen sind teils in der Romanik entstanden wie der 105 m hohe Südturm der Kathedrale von Chartres, oder sie wurden in der Übergangszeit von der Romanik zur Gotik gebaut (Mitte des 12. Jahrhunderts) (Châlons-sur-Marne) oder sie sind gotisch umgebaut wie die Kathedrale von Coutances (13. Jahrhundert). Mit dem Bau der Fassade von Notre Dame de Paris wurde um 1200 begonnen. Um 1240 war sie ohne Spitzhelme vollendet und wahrscheinlich war der gerade Turmabschluss hier in Notre-Dame beabsichtigt und wurde zum Vorbild anderer Kathedralen. Der Südturm der Kathedrale von Senlis, im romanischen Stil der Türme von Laon gehalten, wurde im Gegensatz zum Vorbild um 1250 mit Spitze fertiggestellt. Es ist anzunehmen, dass gotische Baumeister mit ihrer Vorliebe für die Vertikale ungern hinter diesen Türmen zurückstehen mochten. Auch in der Spätgotik entstanden in Frankreich Spitztürme wie der Nordturm der Kathedrale von Chartres. Etwa 200 Jahre nach der Kathedrale von Reims (1211–1311) wurde 44 km südöstlich die Basilika de l’Épine (1415/16–1525) errichtet. Die drei vorgesetzten Portale der repräsentativen Westfassade erinnern an die der Kathedrale. Die Türme darüber sind spitz.


Wurden die Türme einer Kirche in ungleicher Weise flach abgeschlossen, so kann das verschiedene Ursachen haben: In Bourges musste wegen statischer Probleme tatsächlich vom ursprünglichen Bauplan abgewichen werden. Der Südturm musste 1313 wegen Einsturzgefahr gesichert werden, der im 15. Jahrhundert weitergebaute Nordturm stürzte 1506 ein. In Amiens wurde der Südturm 1366 fertiggestellt, der Nordturm etwa 40 Jahre später und wenig höher.


Der Bamberger Dom (1230–1240) und der Naumburger Dom (1250–1260), im Mittelalter mit spitzen Türmen vollendet, verweisen dagegen mit ihrem (abgesehen von späteren Umbauten) spätromanischen Baustil und den jeweils vier etwa gleich hohen Türmen eher auf die Dome von Speyer und Worms als Vorbild, obwohl ihre Turmbauten sich in den Bauformen an der Kathedrale von Laon orientieren.


Der Kölner Dom (ab 1248) geht in seiner Architektur eindeutig auf französische Vorbilder zurück. Der Fassadenplan des Kölner Doms[4] zeigt allerdings, dass in Deutschland die Türme zum Schwerpunkt der Bauplanung wurden. Aus Frankreich sind keine derartigen Pläne erhalten.


Die mittelalterlichen Bauvorhaben der Gotik sind nicht mit heutigen Planungen zu verwechseln. Die damaligen Baumeister ließen sich – auch hier muss man wieder einschränkend sagen: ‚höchstwahrscheinlich‘ – durchaus auf Ideen ein, von denen nicht klar war, ob und wie sie gelingen konnten. Ein Paradebeispiel dazu ist die – diesmal gesicherte – Planung der Zweiturmfassade des Kölner Doms aus dem 14. Jahrhundert (der berühmte „Kölner Fassadenplan“ von 1310/20), die erst im 19. Jh. gelungen ist.


Die gotische Architektur hat generell die Tendenz zur maximalen Ausnutzung der damaligen technischen Möglichkeiten – und zu ihrer Überschreitung. Gerade das damals mit architektonischen Höhenrekorden verbundene unkalkulierbare Risiko ist allerdings auch als Grund in Betracht zu ziehen, warum bei den prominentesten Kirchen Frankreichs darauf verzichtet wurde. Immerhin fanden in den Kathedralen von Paris und Reims regelmäßig Staatsakte statt.


Für die Theorie des geplant flachen Abschlusses spricht, dass gerade bei den drei wohl bedeutendsten gotischen Bauten Frankreichs (Notre Dame de Paris, Notre-Dame d’Amiens, Notre-Dame de Reims) insgesamt nicht ein einziger spitzer Turm fertiggestellt wurde, und darüber hinaus auch alle drei bei genau derselben Baustufe beendet wurden.


Auch in England, das damals vielfach mit Frankreich verbunden war, gibt es zahlreiche bedeutende gotische Kirchen, deren Turmabschluss flach ist, wie die Kathedralen von Bristol, Canterbury, Ely, Exeter (hatte früher hölzerne Spitzhelme), Gloucester, Hereford, London (Westminster Abbey), Wells, Winchester und York.


Ebenfalls für Absicht spricht die Zeitschiene, auch wenn in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges (1337–1453) wenig Geld für den Kathedralbau übrig war. Die Bauarbeiten an den Kathedralen von Paris und Reims fanden ihren Abschluss im 14. Jahrhundert, lange bevor die Zeit gotischer Türme vorbei war. In Paris waren die Türme 1250 fertig, das gesamte Gebäude 1345, der Prager Veitsdom wurde 1344 begonnen, das Ulmer Münster 1377. Die Kathedrale von Antwerpen wurde 1352 begonnen und ihr Nordturm 1516 spitz vollendet. Der Nordturm der Kathedrale von Chartres bekam 1500–1503 seine Spitze, der Nordturm der Kathedrale von Tours 1543–1547. Der Südturm des Wiener Stephansdomes mit 137 Metern Höhe konnte 1433 vollendet werden.
In Deutschland blieben dagegen tatsächlich viele gotische Türme vom 16. bis ins 19. Jahrhundert unvollendet, weil sie vor ihrer Fertigstellung veraltet waren.


Gleichermaßen ambivalente und erhellende Indizien liefert die Baugeschichte des Straßburger Münsters. Der erste Entwurf für eine Spitzturmfassade datiert von 1275, also dem Jahr nach Vollendung des Langhauses. Nachdem Erwin von Steinbach das so genannte Rosengeschoss hochgezogen hatte, wurde der Entwurf in vielerlei Hinsicht abgewandelt und in ganzer Breite ein drittes Geschoss mit neuem waagerechtem Abschluss geschaffen. Danach wandte sich das Ziel wieder in Richtung eines spitzen Abschlusses. Ulrich von Ensingen entwarf ganz neu den Nordturm, der dann 1399 bis 1439 errichtet wurde. Bei mehrfachen Entwurfsänderungen ist der heutige Zustand alles andere als ein unvollständig ausgeführter Originalentwurf.



Gebäudegeschichten |


Hohe Türme waren nicht nur durch konstruktive Mängel gefährdet. Viele Türme mit hölzernem Dachstuhl gerieten durch Blitzschlag in Brand, es war dann bestenfalls möglich, ein Übergreifen des Feuers auf das Kirchenschiff und auf Nachbargebäude abzuwehren. Auch Stürme rissen so manchen Turmhelm um, manchmal sogar Teile des Mauerwerks. Kriegszerstörungen gab es nicht erst im Zweiten Weltkrieg. Nicht selten wurden verlorene Turmspitzen im jeweiligen Zeitgeschmack ersetzt, z. B. ein steiles Pyramidendach durch eine Welsche Haube. Manchmal behalf man sich – teilweise für lange Zeit – mit einem Notdach, als Flachdach oder als Pyramide von geringer Neigung. Als man im 19. Jahrhundert daranging, lange Zeit schlecht unterhaltene mittelalterliche Gebäude aufwändig und manchmal zu schön zu restaurieren, bekam so mancher Turm eine größere Höhe, als er jemals gehabt hatte. Mancherorts wurde mit mehr oder weniger Stilgefühl aufgestockt, mancherorts eine steilere Spitze auf das alte Mauerwerk gesetzt.



Andere Glockentürme |


Wiewohl der Kirchturm geradezu sprichwörtlich ist und Haus-mit-Turm zur Chiffre von Kirche geworden (Verkehrsschilder mit Gottesdienstzeiten), gibt es in manchen Gegenden zahlreiche andere Gebäude mit hohem Glockenturm. In Flandern haben viele Rathäuser einen Belfried. Auch in der Toskana gibt es Rathäuser mit hohem Turm, beispielsweise in Siena.



Superlative |


  • Liste der höchsten Sakralgebäude

  • Der weltweit schiefste Kirchturm ist der Kirchturm von Suurhusen in Ostfriesland. Sortiert nach Abweichung vom Lot hat der Turm der Oberkirche in Bad Frankenhausen mit 4,60 Metern den höchsten Wert.


Literatur |


Allgemein:


  • Nikolaus Pevsner: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997.

  • Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. 1907. (14. Auflage. Piper, München 1987, ISBN 3-492-10122-4)

  • Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik. München 1911.

Gotische Turmabschlüsse:



  • Günther Binding: Baubetrieb im Mittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, S. 191 ff.

  • Günther Binding: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 237 ff.

  • Robert Bork: Gotische Türme in Mitteleuropa. Imhof, Petersberg; 2008.

  • Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. DuMont, Köln 1994, S. 27 und 101.

  • Wim Swaan: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 72: Johan Hültz von Köln: Entwurf der Turmspitze des Straßburger Münsters von 1419.

  • Borger; Gaertner: Der Dom zu Köln. Köln 1980.


Weblinks |



 Commons: Kirchtürme – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien


 Wiktionary: Kirchturm – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

  • 830 Kirchen, Türme und Kapellen in Niederbayern

  • 1000 Jahre Türme - Kirchtürme im Mittelalter


Einzelnachweise |



  1. Franz-Josef Sehr: Das Feuerlöschwesen in Obertiefenbach aus früherer Zeit. In: Jahrbuch für den Kreis Limburg-Weilburg 1994. Der Kreisausschuss des Landkreises Limburg-Weilburg, Limburg-Weilburg 1993, S. 151–153. 


  2. Honour, Hugh / John Fleming: Weltgeschichte der Kunst [1982]. München 5. Auflage. 1999, S. 310.


  3. (abgebildet in: Günther Binding: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140–1350. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 132 und in: Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. Köln 1994. (DuMont Kunst-Reiseführer), S. 27). Im selben Buch von Schäfke ist auf Seite 100 die Zeichnung von Villard de Honnecourt zu den geplanten Türmen von Laon zu sehen. Die auf der Folgeseite stehende „Idealansicht von Norden“ von Laon zeigt die Türme zwar höher als die später gebauten, aber ohne spitze Türme. Die linke originale Zeichnung dagegen deutet diese spitzen Türme an.


  4. Borger/Gaertner: Der Dom zu Köln. Köln 1980, S. 40.








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