Psychose
Psychose (übersetzt auch „Seelenkrankheit“, „seelische Krankheit“) ist ein Grundbegriff aus der Psychiatrie, der seit seiner Entstehung sehr unterschiedlich definiert wurde. Ursprünglich stellte er einen Allgemeinausdruck dar, um jedwede Form von sogenannter Geisteskrankheit[1] medizinisch zu beschreiben. Später wurde seine Bedeutung dann auf ganz bestimmte Krankheitsbilder eingeengt (z. B. die schizophrenen Psychosen).[2][3]
Heute bezeichnet man jede psychische Störung als Psychose, bei der eine erhebliche Beeinträchtigung der Wahrnehmung und Auffassung der erlebten Wirklichkeit besteht – im Sinne einer Störung in der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Nach heutigem Stand sind Psychosen multifaktoriell bedingt und entstehen nach dem gegenwärtig verwendeten Diathese-Stress-Modell durch ein Zusammenspiel zwischen vererbten Anlagen mit äußeren Stressoren (z. B. soziale Faktoren, hormonelle Einflüsse oder Drogen).
Eine Psychose kann sich in sehr unterschiedlichen Symptomen äußern, typischerweise gehören dazu Halluzinationen, Wahn, Realitätsverlust oder Ich-Störungen.[4] Sofern es nicht zu einer Spontanheilung kommt, erfolgt die Behandlung überwiegend mit Neuroleptika. Daneben gibt es bei Vorliegen einer entsprechenden Indikation psychotherapeutische Behandlungsoptionen.[5][6][7]
Inhaltsverzeichnis
1 Zum Begriff
2 Ursachen
3 Folgen von Psychosen
4 Arten von Psychosen
5 Organische Psychosen
6 Substanzinduzierte Psychose
7 Nichtorganische Psychosen
7.1 Schizophrene Psychosen
7.2 Affektive Psychosen
8 Abgrenzung und Komorbidität
9 Psychose und Kunst
9.1 Bildende Kunst
9.2 Literatur und Theater
10 Dokumentarfilme
11 Literatur
11.1 Leitlinien
11.2 Einführungen
11.3 Psychotherapeutische Behandlungsoptionen
11.4 Psychoanalytische Schriften
11.5 Ratgeber
11.6 Psychose und Kunst
12 Weblinks
13 Anmerkungen
14 Einzelnachweise
Zum Begriff |
Der Begriff Psychose wurde erstmals 1841 von Carl Friedrich Canstatt und dann erneut 1845 von Ernst von Feuchtersleben eingeführt.[8] 1846 schrieb Carl Friedrich Flemming, eine körperliche Entstehung (Somatogenese) einbeziehend, dazu: „Die Seelenkrankheit oder Psychose wurzelt in der Seele, insofern diese durch das sinnliche Organ vermittelt wird. [...] Die nächste Ursache der Seelenkrankheit ist Krankheit des körperlichen Organs“.[9] Das Wort „Psychose“ war bereits um 1875 neben den Begriffen Seelenstörung, psychische Krankheit, Geisteskrankheit und Irresein allgemein in der Psychiatrie etabliert. Es war nach Art französischer Fachwörter mit französischer Endung ins Deutsche gekommen, und zwar von altgriechisch psychē (ψυχή), „Seele“, „Geist“, und -osis (-οσις), „Zustand“.[10][11]
Der Begriff Psychose wird häufig als Gegensatz zum Begriff Neurose verwendet, und zwar für psychische Störungen, die deutlich schwerwiegender sind. Er bezieht sich heute meist unscharf auf alle psychischen Erkrankungen und Zustände, die mit Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Störungen des Ich-Erlebens, Realitätsverlust, mangelnder Krankheitseinsicht oder ggf. schweren Erregungszuständen einhergehen.[12]
In den Klassifikationssystemen ICD-10 wie auch DSM-5 wird der Begriff Psychose nicht mehr als übergeordnete Kategorie verwendet. Die früher unter diesem Überbegriff zusammengefassten psychischen Störungen finden sich in der Internationale Klassifikation psychischer Störungen nunmehr stattdessen in verschiedenen Unterabschnitten:
F00 bis F09 fassen organische psychische Störungen zusammen, von denen sich nur wenige den Psychosen zuordnen lassen;
F20 bis F29 beschreiben die psychotischen Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis;
F30 bis F39 beschreiben Affektive Störungen, von denen manche mit psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen etc.) einhergehen können (früher daher affektive Psychosen genannt).
Ursachen |
Besondere Ereignisse oder Infektionen während der frühen Schwangerschaft können – statistisch gesehen – das Risiko etwas erhöhen, dass das Kind später an Schizophrenie erkrankt. So erhöht beispielsweise der Tod eines nahen Angehörigen der Mutter im ersten Schwangerschaftsdrittel (Trimenon) das Risiko des Ungeborenen, später an Schizophrenie zu erkranken. In den beiden späteren Schwangerschaftsdritteln auftretender Stress scheint dagegen keine Auswirkungen auf dieses Risiko zu haben.[13][14] Die aktuell (Stand 2018) gebräuchlichste Arbeitshypothese ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, wonach bei vorhandener Disposition (genetisch oder vorgeburtlich entstanden) aktueller Stress als Auslöser angenommen wird.[15]
Durch die im 21. Jahrhundert stark zugenommenen Möglichkeiten bildgebender Verfahren zeigte sich, dass bei der Ursachensuche von Psychosen nicht nur die Ebene der Gene, Umwelt und Botenstoffe im Gehirn (insbesondere Neurotransmitter) zu berücksichtigen sind, sondern auch anatomische und funktionelle Abweichungen in lokalen und globalen neuronalen Netzwerken des Gehirns.[16][17]
Folgen von Psychosen |
Menschen mit Psychosen haben ein erhöhtes Risiko, weitere Krankheiten zu entwickeln oder durch ihr Verhalten Schaden zu nehmen.[18] Ihre Selbstmordrate ist erhöht (Lebenszeitrisiko bis zu 34,5 %).[19] Sie neigen oft zu Suchtverhalten (Lebenszeitrisiko von 74 %) und werden häufiger obdachlos (pro Jahr 5 %).[20][21] Psychose-Betroffene werden auch häufiger Opfer von Verbrechen (38 % innerhalb von 3 Jahren) und stehen selber häufiger als die Normalbevölkerung wegen Gewalttaten vor Gericht.[22][23]
Arten von Psychosen |
Heute wird die Gruppe der Psychosen unterteilt in:
Organische Psychosen
- aufgrund von Hirnerkrankungen (Demenz; raumfordernde Prozesse),
- aufgrund von Hirnverletzungen (Schädel-Hirn-Trauma),
- aufgrund von Autoimmunerkrankungen (z. B. Lupus erythematodes),
- aufgrund von zugeführten Substanzen (Medikamente, Drogen).
Die Ursachen organischer Psychosen werden unterschieden in:
- primäre: das Gehirn direkt schädigende (Epilepsie; Gehirntumor; Störungen des Neurotransmitterhaushalts).
- sekundäre: das Gehirn indirekt schädigende (Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes; Intoxikationen durch schädigende Substanzen wie Alkohol, Medikamente, Drogen; organische Schäden an Leber, Nieren).
Unterscheidung nach akut oder chronisch:
- akute organische Psychosen: die Symptomatik bei den akuten organischen Psychosen verschwindet mit der Behebung oder Beseitigung der zu Grunde liegenden verursachenden Schädigung.
- chronische organische Psychosen: bei den chronischen organischen Psychosen bleibt die Symptomatik auch nach Behebung der zu Grunde liegenden Ursache (Schädigung) weiter bestehen.
Nichtorganische Psychosen
- Psychosen des schizophrenen Formenkreises (aufgrund der Vielfalt der hier zu beobachtenden Symptomatik wird diese Formulierung heute üblicherweise anstelle des Begriffs Schizophrenie verwendet)
- affektive Psychosen (hierunter fallen manche Formen von bipolarer Störung oder schwerer Depression)[24]
- die Mischform der sogenannten schizo-affektiven Psychose.
Organische Psychosen |
Bei organischen Psychosen sind im Gegensatz zu anderen Psychosen organische Ursachen sicher auszumachen. Diese Psychosen bilden sich aus
- auf der Grundlage einer Erkrankung des zentralen Nervensystems (z. B. bei degenerativen Prozessen wie Demenzen, bösartigen Neubildungen oder durch anderweitige körperlicher Erkrankungen wie Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen)
- infolge von außen einwirkender Schädigungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma)
- durch manche Medikamente, Drogen oder andere die Hirnfunktion beeinträchtigende Substanzen.
- im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen als zeitlich begrenztes Durchgangssyndrom
Symptome
Wahnvorstellungen, Halluzinationen (häufig optisch von einzelnen Lichtblitzen bis hin zur Trugwahrnehmung von Gegenständen und filmartigen Szenen).
Behandlung
Soweit möglich erfolgt die Therapie organischer Psychosen durch die Behandlung der Grunderkrankung, etwa durch das Weglassen von psychoseauslösenden Medikamenten oder Drogen, ansonsten durch Neuroleptika.
Substanzinduzierte Psychose |
Eine substanzinduzierte Psychose (auch Drogenpsychose, toxische oder drogeninduzierte Psychose) ist eine psychotische Störung, die von einer oder mehreren psychotropen Substanzen ausgelöst wurde. Substanzinduzierte Psychosen können unter Umständen irreversibel (unheilbar) oder aber auch nur vorübergehend sein. Substanzen, die Psychosen auslösen können, sind einer Vielzahl an Kategorien zuzuordnen: So existieren unter anderem Genussmittel, Lösungsmittel, Medikamente, Pflanzengifte und Rauschmittel, deren Einnahme ein entsprechendes Risiko darstellt. Exemplarisch lassen sich nennen: Alkohol,[25][26]Amphetamine,[27][28]Benzodiazepine[29][30][31][32], Coffein[33][34], Cannabis, Kokain, LSD,[35][36]MDMA[37] und neue psychoaktive Substanzen.[38]
Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone können Psychosen und Suizide hervorrufen.[39][40][41]
Nichtorganische Psychosen |
Schizophrene Psychosen |
Der Begriff Psychose ist nicht mit Schizophrenie gleichzusetzen (siehe Abschnitt Zum Begriff). Denn als Überbegriff umfasst er auch die organischen und die affektiven Psychosen sowie einzelne psychotische Episoden, die nicht Teil einer lang andauernden Störung (Chronifizierung) sind. Die Schizophrenien stellen somit eine Psychoseart von mehreren Untergruppen dar.
Symptome
Hierzu gehören in erster Linie Wahnvorstellungen und verschiedene Arten von Halluzinationen (Sinnesstörungen).
Die heutigen Diagnosemanuale (DSM-5 oder ICD-10 der WHO) gehen von einer Unterscheidung zwischen positiven Symptomen und negativen Symptomen aus. Letztere äußern sich in Antriebs- und Kommunikationsarmut und teilweise kognitiven Defiziten. Negativsymptome schließen sich häufig an eine akute psychotische Phase an und sind schlechter behandelbar als positive Symptome.[42][43]
Häufigkeit
Weltweit erkranken etwa ein Prozent der Bevölkerung im Laufe des Lebens (Lebenszeitprävalenz) an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Dabei scheint es zwischen verschiedenen Kulturen keine oder nur geringe Unterschiede in der Häufigkeit zu geben. Allerdings ist das Risiko verdoppelt, wenn Personen oder deren Eltern Einwanderer sind.[44] Die Häufigkeit hat in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen. Wenn ein Elternteil betroffen ist, liegt das Risiko auch zu erkranken bei etwa 10 %, im Falle von Onkeln und Tanten bei etwa 2 %, und bei eineiigen Zwillingen bei etwa 50 %. Das Risiko der Ersterkrankung hat bei Männern einen Gipfel zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr und bei Frauen zwischen dem 23. und 28. Lebensjahr. Bei der Häufigkeit dagegen ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen.[45]
Verlauf
In etwa 10–20 % der Fälle bleibt es bei einer einmaligen psychotischen Episode. In etwa der Hälfte der Fälle kommt es zu wiederkehrenden Schüben und störungsfreien Phasen dazwischen. Bei etwa 20–30 % der Patienten bestehen wiederkehrende Schübe und zusätzlich anhaltende Schwächezustände.[46][47]
Behandlung
Zur Behandlung mit Medikamenten steht eine Auswahl von verschiedenen Neuroleptika zur Verfügung. Außerhalb akuter Phasen können dauerhaft gegebene Neuroleptika – sofern sie regelmäßig eingenommen werden – erneute Phasen verhindern.
Die Ansprache eines Patienten auf verschiedene Typen von Neuroleptika ist sehr unterschiedlich und wird mit der möglichen Existenz verschiedener Typen von Schizophrenie in Verbindung gebracht.[48]
Neben der medikamentösen Behandlung werden auch – je nach Einzelfall – soziotherapeutische Maßnahmen angewandt. Solche beziehen sich auf die Erhaltung des Arbeitsplatzes, einen beschützten Arbeitsplatz, betreutes Wohnen, ergotherapeutische Maßnahmen zur Wiederherstellung von im Rahmen der Erkrankung verlorengegangenen Arbeitsfähigkeiten, Aufbau von Tagesstruktur, Durchführung einer Belastungserprobung oder Psychotherapie. Bei nicht mehr akuten Krankheitsbildern besteht die Möglichkeit der Psychosenrehabilitation.
Affektive Psychosen |
Die Bezeichnung Affektive Psychose als Unterkategorie ist veraltet. Nach ICD-10 gibt es Affektive Störungen, von denen manche zusammen mit psychotischen Symptomen auftreten können.[49] Hierzu gehören:
- F30.2 – Manie mit psychotischen Symptomen (z. B. Wahnvorstellungen wie Größenwahn, oder Halluzinationen wie Stimmen hören)
- F31.2 – Bipolare affektive Störung, gegenwärtig manische Episode mit psychotischen Symptomen
- F31.5 – Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
- F31.6 – Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte Episode
- F32.3 – Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen
Behandlung
Akute Manien können medikamentös mit Neuroleptika behandelt werden. Für eine Phasenprophylaxe stehen Lithiumtherapie und manche Antiepileptika zur Verfügung. Gegen Depressionen können im Rahmen einer Pharmakotherapie Antidepressiva eingesetzt werden. Bei schwerer Depression wird eine Kombination von medikamentöser Therapie und Psychotherapie empfohlen. Gegebenenfalls sind bei Manien und schweren Depressionen die gleichen soziotherapeutischen Maßnahmen angebracht wie bei schizophrenen Psychosen. Bei anders nicht behandelbarer schwerer Depression kommt auch die Elektrokonvulsionstherapie in Betracht, die teilweise mit einem Rückgang der Neigung zum Suizid und verminderten Selbsttötungen in Zusammenhang gebracht wird.
Abgrenzung und Komorbidität |
Psychosen sind zunächst von geistigen Behinderungen abzugrenzen, da während der störungsfreien Phasen zwischen den akuten psychotischen Phasen in aller Regel keine krankheitsbedingte Intelligenzminderung vorliegt. Ansonsten sind von den Psychosen alle anderen psychischen Störungen zu unterscheiden, die ohne deutlichen Realitätsverlust (wie Wahn oder Halluzinationen) auftreten.
Außer bei den in ICD-10 aufgeführten Erkrankungen treten Psychosen auch als Komorbidität bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf: Nach vorläufigen Schätzungen beträgt die Häufigkeit etwa 20 bis 50 Prozent (Stand 2013).[50][51][52]
Psychose und Kunst |
Der Psychoanalytiker Stavros Mentzos befasste sich 2012 mit den „schöpferischen Aspekten“ der Symptomatik von Psychosen.[53] Mit Verweis auf seine vorausgehende Publikation aus dem Jahr 2009,[54] in der er die Funktion von Symptomen ausführlich vorgestellt hatte, maß er „psychotischer Symptomatik“ auch eine "Schutzfunktion" bei und verglich die Symptombildung mit dem „kreativen“ Vorgang des Träumens.[55] Einigen Künstlern der Moderne sei sie „Quelle der Inspiration“, als solche aber „überschätzt“.[56][Anmerkung 1]
Bildende Kunst |
Auf dem 10. Hamburger Colloquium von 2002[57] der Patriotischen Gesellschaft von 1765 gab Susanne Hilken ihrem Vortrag den Titel Psychose und Kunst – zwischen Stigma und Emanzipation.[58] Hilken bezeichnete die Zahl von Veröffentlichungen über Psychose und Kunst bzw. angrenzende Themen als „kaum noch überschaubar“.[58] Sich auf die bildende und darstellende Kunst beschränkend, empfahl sie, folgende Unterscheidung vorzunehmen: Menschen mit einer Psychose als Gegenstand (Sujet) der Kunst und Patienten, die während ihrer Psychose beginnen, sich künstlerisch zu betätigen, sowie Künstler, die vorübergehend oder chronisch an einer Psychose erkranken.[58]
Die vorgeschlagene Unterscheidung hilft, sich zurechtzufinden, denn nicht immer wird entsprechend differenziert, weder zwischen diesen drei Gruppen, noch im Hinblick auf ihre Krankheitsbilder. Zur erstgenannten Gruppe von Künstlern, die, selbst nicht erkrankt, einen Teil ihrer Kunst ausdrücklich dem Thema Psychose widmen, ist als zeitgenössischer Künstler beispielsweise Peeter Allik zu rechnen – ein Maler und Grafiker aus Estland,[59] der einer seiner Ausstellungen im Kunstmuseum in Tartu den Titel Cultivated Schizophrenia gab.[60] Hilken erinnerte an Théodore Géricault, der Bildnisse von Patienten des seinerzeit berühmten Hôpital de la Salpêtrière in Paris schuf, aber auch an Goya oder Frans Hals.
Für die zweite Gruppe wird oft weder zwischen einer Psychose und anderen psychischen Erkrankungen, noch zwischen den teilweise erheblich voneinander abweichenden Verläufen einer Psychose differenziert. In dieser Gruppe finden sich so unterschiedliche Künstler wie Adolf Wölfli, August Natterer oder, mit anderer Vita, Paul Salvator Goldengruen. Doch hat die Kunst dieser Patienten nicht selten mit Unterstützung ihrer Ärzte einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Neue Begriffe – wie z. B. Art brut – etablierten sich und ganze Sammlungen entstanden, beispielsweise die Sammlung Prinzhorn. Leo Navratil, ein österreichischer Psychiater, prägte den Begriff der „zustandsgebundenen Kunst“, publizierte darüber und wurde wegen seines Engagements für die Kunst seiner stationär behandelten psychiatrischen Patienten geehrt.[61] Zugleich zog er harsche Kritik auf sich – 1976 durch den österreichischen Schriftsteller Gerhard Roth und 1979 durch den Journalisten Ernst Klee.[62]
Für die dritte Gruppe, also Künstler, die im Laufe ihres Lebens an einer Psychose erkrankten, finden sich zahlreiche Beispiele, wie Wolfgang Hallmann oder Louis Wain. Hilken unterschied konkret Künstler, die eine gesteigerte künstlerische Aktivität entwickeln oder, ganz im Gegenteil, deren kreatives Schaffen in der Psychose zum Erliegen kommt. Andere vollziehen markante Stilwechsel und bei wieder anderen scheint ihr Werk von der Erkrankung nicht beeinflusst. Neben Messerschmidt und van Gogh widmete sie sich der französischen Bildhauerin Camille Claudel (1864–1943), für die sie verschiedene Schaffensperioden beschrieb; diese zerstörte schließlich ihr eigenes Werk, soweit ihr zugänglich, stellte ihre schöpferische Arbeit ein und verbrachte gegen ihren Willen die letzten 30 Jahre ihres Lebens in einer psychiatrischen Klinik.[63] Claudels Lebenswerk wurde im Mai 2017 mit der Eröffnung eines eigenen Museums in Nogent-sur-Seine gewürdigt.[64] Es beherbergt die „größte Camille Claudel-Sammlung der Welt“.[65][66]
Claudels Vita, um die sich zahlreiche Legenden rankten, ist von B. Cooper, einem Professor am Department of Old Age Psychiatry des King’s College London, im Jahr 2008 auf der Basis moderner interaktionistischer Modelle neu bewertet worden.[67] Dafür wertete Cooper inzwischen veröffentlichtes Material aus Klinik und Biografie aus. Er kam zu dem Schluss, bei Claudel würden sich zwei miteinander verschränkte Syndrome abbilden. Für ihn unzweifelhaft entwickelte Claudel im Alter von 41 Jahren eine paranoide Psychose mit fortgesetzten Wahnvorstellungen und Ängsten, vergiftet zu werden. Daneben sei eine Kombination von ernsthafter Selbstvernachlässigung, sozialer Isolation und Verweigerung des vorausgehenden Lebensstandards wirksam geworden, heute bekannt als Diogenes-Syndrom. Ihre Psychose würde Cooper als wahnhafte Störung klassifizieren, aber genau genommen müsse sie in dem unscharf umrissenen Bereich zwischen Paranoia (wahnhafte Verarbeitung von Wahrnehmungen), Paraphrenie (Spätschizophrenie mit gesonderter Symptomatik) und Schizophrenie angesiedelt werden.[68] Für die Ursache ihrer Erkrankung machte Cooper eine abnorme Anlage-Umwelt-Interaktion verantwortlich. In Claudels Fall sei eine psychotische Prädisposition assoziiert mit einem ausgeprägt kreativ-schöpferischen Talent. Ihre Kunst dürfe, obwohl sie ihre emotionalen Konflikte symbolisiere, nicht als „morbid“ zurückgewiesen werden.[69] Stattdessen hätten – unabhängig von einer möglicherweise gemeinsamen Ursache von Claudels innerem Drang zur Kreativität und ihrer mentalen Instabilität – zwei verschiedene „Linien“ ihres Lebensweges zusammengewirkt, so dass unter fortgesetzter sozialer Not die mentale Instabilität schließlich die Oberhand gewonnen habe.[70]
Literatur und Theater |
Innenansichten erlebter und durchlittener Schübe einer bipolaren Psychose beschreibt Thomas Melle in seinem mehrfach ausgezeichneten Buch Die Welt im Rücken.
David Hugendick befand in der Zeit: „Es passiert selten, dass man ein Buch mit komplexen Schamgefühlen liest. Man schämt sich für den Zwiespalt, der sich in einem selbst auftut, weil man sich überrannt fühlt oder niedergetrampelt, erstarrt und immer wieder unterhalten. […] Und man schämt sich, weil man sich sicher ist, dass dieses Buch große Literatur ist, aber es vielleicht gar nicht sein will, sondern möglicherweise eine Selbsterkundung, auf jeden Fall eine tragische, wahre Geschichte, die nur dem Autor gehört und nicht dem Leser und nicht dem Jubel der Rezensenten.“[71]
2017 wurde Melles Krankheitsdarstellung in Wien erstmals als Theaterstück aufgeführt, im Akademietheater unter der Regie von Jan Bosse mit Joachim Meyerhoff als Hauptdarsteller. Wolfgang Kralicek resümierte seine Eindrücke von der Aufführung in der Süddeutschen Zeitung: „Man muss nicht bipolar sein, um zu begreifen, dass etwas nicht stimmt. Mit jedem von uns, aber schon auch mit der Welt. Dass ein Buch die Rettung sein kann, ist der tröstliche Gedanke, mit dem man diesen Theaterabend verlässt.“[72]
Dokumentarfilme |
Soteria Bern. Akut. Schweiz 2013, Regie: Leila Kühni – Dokumentarfilm über die Soteria Bern (Teil 1), Schweizer Mundart mit hochdeutschen Untertiteln[73]
Soteria Bern. Integration. Schweiz 2013, Regie: Leila Kühni – Dokumentarfilm über die Soteria Bern (Teil 2), Schweizer Mundart mit hochdeutschen Untertiteln[74]
Soteria Bern. Gespräch. Schweiz 2013, Regie: Leila Kühni – Dokumentarfilm über die Soteria Bern (Teil 3), Schweizer Mundart mit hochdeutschen Untertiteln[75]
Literatur |
Leitlinien |
Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists clinical practice guidelines for the management of schizophrenia and related disorders, 2016.
National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Psychosis and schizophrenia in adults: prevention and management, 2014 (no new evidence found in November 2017 that affected the recommendations in this Guideline).
National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Psychosis and schizophrenia in children and young people: recognition and management, 2013 (last updated: October 2016).- National Collaborating Centre for Mental Health: Psychosis with Coexisting Substance Misuse: The NICE Guideline on Assessment and Management in Adults and Young People, RCPsych Publications, London 2011, ISBN 978-1-908020-30-7.
- Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): Schizophrenie - Kurzfassung, November 2005, Gültigkeit abgelaufen; wird (Stand Februar 2018) überprüft.
Einführungen |
- James B. McCarthy (Hrsg.): Psychosis in childhood and adolescence, Routledge, New York 2015, ISBN 978-1-136-73896-8.
- Paolo Fusar-Poli, Stefan J. Borgwardt, Philip McGuire (Hrsg.): Vulnerability to Psychosis: From Neurosciences to Psychopathology, Psychology Press, New York 2012, ISBN 978-1-136-59639-1.
Heinz Häfner u. a. (Hrsg.): Psychosen – Früherkennung und Frühintervention: der Praxisleitfaden, mit 23 Tabellen, Schattauer Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-7945-2704-5.- Rudolf N. Cardinal, Edward T. Bullmore: The Diagnosis of Psychosis, Cambridge University Press, 2011, ISBN 978-1-139-49790-9.
- Johan Cullberg: Therapie der Psychosen: Ein interdisziplinärer Ansatz, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2008, ISBN 978-3-88414-435-0.
- Dieter Bürgin, Heiner Meng (HRSG): Childhood and Adolescent Psychosis, Karger Medical and Scientific Publishers, Basel 2004, ISBN 978-3-8055-7706-9.
Karl Leonhard: Aufteilung der endogenen Psychosen und ihre differenzierte Ätiologie, Hrsg. Hellmut Beckmann, 8. Aufl., 54 Tabellen, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-13-128508-9.
Psychotherapeutische Behandlungsoptionen |
- Til Wykes, Craig Steel, Brian Everitt, Nicholas Tarrier: Cognitive behavior therapy for schizophrenia. Effect sizes, clinical models, and methodological rigor. In: Schizophrenia Bulletin. Band 34, Nr. 3, 2008, S. 523–537, doi:10.1093/schbul/sbm114 (englisch).
- T. M. Lincoln, K. Wilhelm, Y. Nestoriuc: Effectiveness of psychoeducation for relapse, symptoms, knowledge, adherence and functioning in psychotic disorders. A meta-analysis. In: Schizophrenia Research. Nr. 96, 2007, S. 232–245, doi:10.1016/j.schres.2007.07.022 (englisch).
- Gabi Pitschel-Walz, Stefan Leucht, M.D. Josef Bäuml, Werner Kissling, Rolf R. Engel: The effect of family interventions on relapse and rehospitalization in schizophrenia. A meta-analysis. In: Schizophrenia Bulletin. Band 27, Nr. 1, 2001, S. 73–92, doi:10.1093/oxfordjournals.schbul.a006861 (englisch).
Peter Fonagy: The effectiveness of psychodynamic psychotherapies. An update. In: World Psychiatry. Band 14, Nr. 2, 2015, S. 137–150, doi:10.1002/wps.20235 (englisch).- David Trevor Turner, Mark van der Gaag, Eirini Karyotaki, Pim Cuijpers: Psychological interventions for psychosis. A meta-analysis of comparative outcome studies. In: American Journal of Psychiatry. Band 171, Nr. 5, 2014, S. 523–538, doi:10.1176/appi.ajp.2013.13081159 (englisch).
Psychoanalytische Schriften |
Stavros Mentzos, Alois Münch (Hrsg.): Widerstände gegen ein psychodynamisches Verständnis der Psychosen (= Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie. Band 31). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, Bristol 2015, ISBN 978-3-525-45245-5 (frankfurterpsychoseprojekt.de [PDF; 256 kB; abgerufen am 1. Mai 2018]).- Stavros Mentzos, Alois Münch (Hrsg.): Die Bedeutung des psychosozialen Feldes und der Beziehung für Genese, Psychodynamik, Therapie und Prophylaxe der Psychosen (= Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie. Band 2). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 978-3-525-45102-1.
- Stavros Mentzos (Hrsg.): Psychose und Konflikt. Zur Theorie und Praxis der analytischen Psychotherapie psychotischer Störungen. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, ISBN 978-3-525-45750-4.
Herbert A. Rosenfeld: Zur Psychoanalyse psychotischer Zustände. Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, ISBN 978-3-89806-119-3 (englisch: Psychotic states. Übersetzt von Charlotte Kahleyss-Neumann).
Ratgeber |
- Paul French, Jo Smith, David Shiers, Mandy Reed, Mark Rayne (Hrsg.): Promoting Recovery in Early Psychosis: A Practice Manual, John Wiley & Sons 2010, ISBN 978-1-4443-1882-1.
- Michael T Compton, Beth Broussard: The First Episode of Psychosis: A Guide for Patients and Their Families, Oxford University Press 2009, ISBN 978-0-19-970700-3.
Thomas Bock: Umgang mit psychotischen Patienten, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2003, 6. Aufl. 2009, ISBN 978-3-88414-332-2.
Josef Bäuml: Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis: Ratgeber für Patienten und Angehörige, Leitfaden für professionelle Helfer, Einführung für interessierte Laien, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Springer, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-43646-1.
Psychose und Kunst |
- B. Cooper: Camille Claudel: trajectory of a psychosis. In: Medical humanities. Band 34, Nummer 1, Juni 2008, S. 25–29, doi:10.1136/jmh.2008.000268, PMID 23674536, PDF.
- Susanne Hilken: Psychose und Kunst – zwischen Stigma und Emanzipation. In: Patriotische Gesellschaft von 1765 (Hrsg.): Kunst und Therapie III. 4. Mai 2002 (uni-hamburg.de [PDF; 1,4 MB; abgerufen am 24. April 2018]).
- Stavros Mentzos: Schöpferische Aspekte der psychotischen Symptomatik. Vergleichbare ästhetische Qualitäten im Traum und in der Psychose. In: Stavros Mentzos, Alois Münch (Hrsg.): Das Schöpferische in der Psychose (= Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie. Band 28). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-45236-3, S. 13–26 (frankfurterpsychoseprojekt.de [PDF; 137 kB; abgerufen am 23. April 2018]).
Weblinks |
Wiktionary: Psychose – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
psychose.de – Für Erfahrene, Angehörige und Profis: Informationen, Trialog und interaktives Therapieportal
Früherkennung von Psychosen – Früherkennungs- und Therapiezentrum (FETZ) der Uni Köln- Robin Wester: Früherkennungszentrum in Bonn - Wie sich eine Psychose ankündigt, in: General-Anzeiger (Bonn), 18. November 2017.
- Martin Hubert: Fortschritte in der Früherkennung von Psychosen werfen Fragen auf, in: Deutschlandfunk – Forschung aktuell, 1. Juni 2017.
- Vera Eckardt: Wo Jugendliche in Essen lernen, mit einer Psychosezuleben, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), 12. Dezember 2017.
Anmerkungen |
↑ Die Psychoanalytiker Peter Hartwich und Michael Grube bezeichneten das "Konzept", nach dem psychotische Symptome auch eine "Schutzfunktion" haben könnten, als "Modell" und "Interpretation". Auch legten sie keine empirischen Erkenntnisse zur Stützung des "Konzepts" vor.1 Außerhalb der Psychoanalyse, von Seiten der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, haben die Spezialisten für Psychosen Karl Leonhard und Heinz Häfner in ihren Hauptpublikationen zum Thema Psychose das "Konzept" der "Schutzfunktion" nicht erwähnt.2 3
1 Peter Hartwich, Michael Grube: Psychotherapie bei Psychosen: Neuropsychodynamisches Handeln in Klinik und Praxis. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Springer-Verlag, Berlin 2015, S. 81f, ISBN 978-3-662-44246-3.
2 Heinz Häfner u. a. (Hrsg.): Psychosen - Früherkennung und Frühintervention: der Praxisleitfaden, mit 23 Tabellen, Schattauer Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-7945-2704-5.
3 Karl Leonhard: Aufteilung der endogenen Psychosen und ihre differenzierte Ätiologie, Hrsg. Hellmut Beckmann, 8. Aufl., 54 Tabellen, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-13-128508-9.
Einzelnachweise |
↑ Duden: Geisteskrankheit.
↑ Christian Müller (Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie: Gesammelte Abhandlungen der gebräuchlichsten psychopathologischen Begriffe. Springer-Verlag, 1973. ISBN 978-3-642-96154-0. Stichwort: „Psychose“ (S. 553)
↑ Roudinesco, Elisabeth, Michel Plon: Wörterbuch der Psychoanalyse. Namen, Länder, Werke, Begriffe. Springer, 2012. ISBN 978-3-7091-7216-2; Stichwort: „Psychose“ (S. 823)
↑ W. Gaebel, J. Zielasek: Focus on psychosis. In: Dialogues in clinical neuroscience. Band 17, Nummer 1, März 2015, S. 9–18, PMID 25987859, PMC 4421906 (freier Volltext) (Review).
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↑ „Je tiefer sich die Erzählung in die Manie steigert“, referiert Kralicek, „desto mehr kommt Meyerhoff ins Spielen, desto lauter und exaltierter wird er. Er verwandelt sich aber auch dann nicht in einen Maniker, sondern nur in einen Schauspieler, wenn man das überhaupt voneinander trennen kann. Das Theater wird von Theaterleuten im Scherz gern mit einer geschlossenen Anstalt verglichen. An diesem Abend kann man ganz unironisch sehen, dass da was dran ist: Theater spielen hat etwas Manisches.“ (Wolfgang Kralicek: Burgtheater Wien. Wenn das Hirn davon stürzt. In: Süddeutschen Zeitung 13. März 2017; abgerufen am 30. August 2018).
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